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Egon Schiele
(Tulln 1890 - 1918 Wien)
„Mann mit erhobenen Armen (Selbstporträt)“
1914
Bleistift auf Papier
48 x 31,8 cm
Signiert und datiert rechts unten: Egon / Schiele / 1914
Provenienz
Carl Reininghaus;
Emilie Frey-Reininghaus;
Kornfeld & Klipstein, 11. - 13. Juni 1975, sale 155, Nr. 871;
Wolfgang G. Fischer, London;
Privatbesitz, Wien
Ausstellung
1969 London, Marlborough Fine Art, Egon Schiele: Drawings and Watercolors, 1909-1918, Feb.-März, Nr. 32 (Abb.)
Literatur
Jane Kallir, Egon Schiele. The Complete Works, New York 1990, WV-Nr. 1646, Abb. S. 540
Schätzpreis: € 120.000 - 200.000
Auktion ist beendet.
Obwohl Schieles- in Hinblick auf sein kurzes Leben sehr reiches - Oeuvre in all seinen Lebensabschnitten interessante Werke beinhaltet, sind es wohl die Jahre 1910-1915, die als die wichtigsten bezeichnet werden können.
1914 ist ein solch produktives Jahr für Egon Schiele, in dem sein künstlerischer Erfolg bestätigt wird: Erstmals kann er sich auf internationalen Ausstellungen auch außerhalb Österreichs beteiligen: In Rom, Brüssel und Paris. Mit dem Fotografen Anton Josef Trčka nimmt Schiele eine Reihe von höchst eigenwilligen Porträtaufnahmen auf, die bis heute immer wieder in Publikationen abgebildet werden. Besonders wichtig ist aber eine persönliche Begegnung: Im Haus, das dem Atelier des Künstlers in der Hietzinger Hauptstraße 101, 1130 Wien, gegenüberliegt, lebt die Familie Harms mit den zwei Töchtern Adele und Edith, die Schiele auffallen. Nach einigen Annäherungsversuchen lernt er die Schwestern zu Jahresende kennen und freundet sich mit den beiden an, Edith wird er wenig später heiraten.
Die vorliegende, kraftvolle Zeichnung aus diesem Jahr ist eines von mehreren Selbstbildnissen mit erhobenen Händen. In einer ekstatisch-konzentrierten Bewegung wirft Schiele die Arme nach oben, die Bewegung drückt sich in den virtuos gezeichneten Linien des Stoffes aus. Das rechte Handgelenk wirkt zart und zerbrechlich, die einzelnen Finger sind nicht mehr lesbar zu einer dreieckigen Form verschmolzen. Die linke Hand ist gar nicht erkennbar, sondern bleibt unter dem nach vor gerutschten Stoff des Hemdes versteckt.
Anders als auf einem Pendant der Zeichnung, auf dem der Kopf des Künstlers gut zu sehen ist, ist dieses Blatt auf den ersten Blick nicht ganz einfach zu lesen: Der Kopf ist kaum zu erkennen, er scheint mit dem Stoff des linken Ärmels gewissermaßen zu verschmelzen: Unterhalb des Ärmels sind eine dreieckige spitze Nase, ein dunkler Haarschopf und ein leeres Auge zu erkennen, das Schiele, wie häufig zu dieser Zeit, nur mit einem Bogen, der die Braue andeuten soll, skizziert. Das Auge selbst fehlt wie auch in anderen Werken um 1914, in denen Schiele besonders im Gesicht geometrisierende Vereinfachungen anwendet.
Ein interessantes Detail ist die ovale Umrisslinie des Hinterkopfes, die Schiele quasi über den Ärmel führt, obwohl der Kopf ja eigentlich von diesem verdeckt wird. Ohne diese Andeutung wäre der Kopf noch schwerer zu verorten, auf den ersten Blick scheint es sich hier nur um eine Aufbauschung des Stoffes zu handeln. Die in seinen Arbeiten immer wieder kehrende Tendenz zum Konstruktiven ist hier gut erkennbar, die erhobenen Hände bilden zusammen genommen ein Dreieck, aufgebauschte Kleiderfalten modelliert Schiele in Halbkreisen und geometrischen Flächen, die Bewegung suggerieren. Innerhalb der Umrisslinien zeichnet er fahrige, aber exakt platzierte Linien und Schraffuren, mit denen die Stofffalten in freies Grafisches übersetzt sind. An einigen Linien setzen vielfach kurze Striche an bzw. überkreuzen sie – das kommt vereinzelt schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1913 vor, wird in der folgenden Zeit typisch und ist in der vorliegenden Zeichnung stark ausgeprägt. Ähnlich wie die Farbstriche und -flecken in zeitgleichen Gouachen verleihen auch diese Bleistiftstriche den einzelnen Falten und Stoffwürfen eine plastische Wirkung und bestimmen sie im Raum.
(Ina Waldstein)