Auktionshaus

Auktion: Klassische Moderne

23. April 2013, 18:00 Uhr

0039

Richard Gerstl

(Wien 1883 - 1908 Wien)

„Selbstbildnis (Ausschnitt)“
1906/07
Öl auf Leinwand
42 × 39,5 cm

Schätzpreis: € 70.000 - 140.000
Ergebnis: € 409.600 (inkl. Gebühren)
Auktion ist beendet.

Richard Gerstl
(Wien 1883-1908 ebd.)

Selbstbildnis (Ausschnitt), 1906/07
Öl auf Leinwand; 42 x 39,5 cm
Rückseitig am Keilrahmen von Otto Kallir bezeichnet und nummeriert: Nr. 24 Selbstbildnis (Ausschnitt)
Rückseitig auf Leinwand von Otto Kallir beschriftet: 36 x 24 (Maße des originalen Keilrahmens)
Nachlass-Stempel rückseitig am Keilrahmen

Provenienz: vom Vorbesitzer 1931 bei Otto Kallir erworben; seither in österreichischem Privatbesitz

Ausstellung: Neue Galerie, Wien 1931

Literatur: Otto Kallir, Richard Gerstl (1883-1908). Beiträge zur Dokumentation seines Lebens und Werkes mit einem Nachlassverzeichnis, Nr. 24, S. 152, in: Mitteilungen der Österreichischen Galerie, 1974, S. 125-193; Klaus Albrecht Schröder, Richard Gerstl 1883-1908, Katalog Kunstforum Bank Austria, Wien 1993, vergleiche Nr. 63, S. 157 (hier ist das vorliegende Bild, Kallir Nr. 24, erwähnt, jedoch mit einem falschen Foto kombiniert)

Richard Gerstls Position als einer der führenden Maler der Wiener Jahrhundertwende ist unumstritten. Seine Malerei war von großer Radikalität. Mit seinem dynamischen, expressiven Malstil rebellierte Gerstl gegen jede Art von Akademismus und nahm eine künstlerische Vorreiterrolle ein. Bedingt durch seinen frühen Freitod im Jahre 1908 hinterließ Gerstl allerdings nur ein relativ kleines Oeuvre - etwa 80 Arbeiten sind dokumentiert. Dass wir im Rahmen unseres Auktionsangebots erstmals seit der ersten Gerstl-Ausstellung 1931 ein vermutlich in den Jahren 1906 oder 1907 entstandenes "Selbstbildnis" wieder präsentieren können, kommt einer Sensation gleich.

Gerstl wurde am 14. 9. 1883 in Wien geboren. Seine erste malerische Ausbildung erhielt er bei Christian Griepenkerl an der Akademie der bildenden Künste. Er blieb dort von Oktober 1898 bis Sommer 1901. Während des Sommers besuchte er die Kurse des ungarischen Malers Simon Holòsy in Nagybànya. Mit seinem ehemaligen Klassenkollegen Viktor Hammer bezog er 1904/1905 ein gemeinsames Atelier. Der als fortschrittlich geltende Maler Heinrich Lefler sah 1906 bei Viktor Hammer Gerstls Doppelbildnis der Schwestern Fey und lud ihn daraufhin ein, in seiner „Spezialschule für Malerei“ an der Wiener Akademie das Studium wieder aufzunehmen.
1906 schloss Gerstl Freundschaft mit Arnold Schönberg und dessen Frau Mathilde. Er verbrachte den Sommer 1907 gemeinsam mit den Schönbergs in Traunstein (bei Gmunden) am Traunsee. Auch den folgenden Sommer des Jahres 1908 hielt sich Gerstl mit der Familie Schönberg am Traunsee auf. Nach einem Eklat - Gerstl hatte ein leidenschaftliches Verhältnis mit Arnold Schönbergs Frau begonnen - kehrte der Maler in Begleitung von Mathilde Schönberg vorzeitig nach Wien zurück und bezog ein neues Atelier in der Liechtensteinstrasse 20.
Mathilde Schönberg verließ Gerstl jedoch schon nach kurzer Zeit wieder. Gerstl verlor nach diesem Skandal nicht nur seine Geliebte sondern auch seinen engen Freundes- und Bekanntenkreis. In der Nacht vom 4. auf den 5. November 1908 erhängte er sich im Alter von 25 Jahren in seinem Atelier. Den Erzählungen seines Bruders Alois Gerstl zufolge soll der Künstler kurz davor zahlreiche Werke vernichtet haben.

Nach seinem Selbstmord ließ die Familie des Künstlers die im Atelier verbliebenen Arbeiten in Kisten verpacken und bei einer Speditionsfirma einlagern. 1931 bot Alois Gerstl dem Kunsthändler Otto Nirenstein-Kallir die Werke aus dem künstlerischen Nachlass seines Bruders zum Kauf an. Jahre später beschrieb Nirenstein-Kallir den Beginn seiner Wiederentdeckung des jung verstorbenen Künstlers, der sich zu Lebzeiten geweigert hatte, seine Werke auszustellen: "So ging ich mit ihm (Alois Gerstl) in das Lagerhaus der Firma Rosin & Knauer und fand dort eine große Anzahl von meist unaufgespannten, gerollten oder zusammengefalteten Leinwanden, die 23 Jahre in Kisten aufbewahrt worden waren. Zwar war vieles durch die unfachgemäße Art der Aufbewahrung beschädigt, (…) manche Bilder sogar in Teile zerschnitten, (…) trotzdem war der Eindruck der ersten Begegnung mit dem Werk des unbekannten Malers ein außerordentlich starker." (Kallir 1974, S. 125)
Nirenstein-Kallir bemühte sich, die Schäden, die durch die lange Lagerung der Werke entstanden waren, zu beheben und ein Verzeichnis der Arbeiten anzulegen. Er wählte für jede Arbeit einen Titel und vergab eine Nummer, unter der sie in das Verzeichnis aufgenommen wurde. Titel, Maße und Nummer vermerkte er auf der Rückseite der Bilder, außerdem brachte er einen Nachlass-Stempel an. So findet man auf der Rückseite der Leinwand unseres Selbstbildnisses Kallirs Maßangabe "36 x 34 cm" und auf dem Keilrahmen neben dem Nachlass-Stempel Kallirs handschriftlichen Hinweis "Nr. 24 Selbstbildnis (Ausschnitt)". Das Selbstbildnis war vom Künstler selbst aus einem größeren Ölbild ausgeschnitten worden. Dieser zerstörerische Akt des Malers war kein Einzelfall, sondern ist auch bei anderen Werken bekannt (vgl. Schröder 1993, Kat. Nr. 4, S. 43). Kallir spannte die beschnittene, lose aufgefundene Leinwand über einen Keilrahmen, beschriftete diesen und drückte den Nachlass-Stempel darauf.
Bereits im September 1931 eröffnete Nirenstein in seiner Neuen Galerie in Wien eine erste Gerstl-Ausstellung, die dann in den Jahren 1932 bis 1935 in veränderter Zusammenstellung nach München, Berlin, Köln, Aachen und Salzburg gelangte. "Der Erfolg war ein ganz außerordentlicher. Das Erstaunen darüber, dass das Werk eines so besonderen Künstlers so lange unbekannt bleiben konnte, mischte sich mit uneingeschränkter Bewunderung. (…) Nicht nur in Wien begeisterte man sich für Richard Gerstl; sein Name war mit einem Mal auch außerhalb Österreichs bekannt geworden." (Kallir 1974, S. 132f.)
Unser "Selbstbildnis" fand schon im Rahmen der ersten Ausstellung in der Neuen Galerie in Wien im Jahr 1931 einen neuen Besitzer. Es taucht in den Gerstl-Ausstellungen bis 1935 nicht mehr auf und wurde auch danach nie mehr öffentlich gezeigt. Nach dem Jahr 1938 hat sich die Frage der Teilnahme an Ausstellungen ohnehin erübrigt, denn die Malerei Richard Gerstls wurde als entartet (ab)qualifiziert.

Wie etwa auch Egon Schiele beschäftigte sich Richard Gerstl in extremer Form mit der Darstellung und Inszenierung seiner eigenen Person. Fast ein Viertel des gesamten erhaltenen Oeuvres ist dem Selbstporträt gewidmet. In unserem Selbstbildnis präsentiert sich Gerstl in leicher Profilansicht mit den für ihn typschen Kleidungsstücken: dunkles Sakko, weißer Hemdskragen und dunkle Masche. Sein Blick trifft den Betrachter direkt und unmittelbar, deutlich zu sehen ist sein Sehfehler. Er wirkt ruhig und selbstbewusst und hat eine starke, einnehmende Präsenz. Charakteristisch ist das auratische Strahlen, mit dem der Maler seine physiognomische Erscheinung umgibt: dicke Pinselstriche folgen der geschwungenen Körperkontur, werden von dieser gleichsam magisch angezogen und betonen mit Lichteffekten die Umrisslinie des Porträtierten. Mit diesem Kunstgriff des Halo-Effekts, des Lichthofs, der den Porträtierten vor dem grünen Hintergrund erstrahlen lässt, verleiht der Maler seiner Person eine mystisch-symbolische Aura, die das innere, geistige Wesen des genialen Künstlers assoziieren lässt.
Haartracht und Malweise lassen auf eine Entstehung in der Zeit zwischen Anfang 1906 und Frühjahr 1907 schließen, bevor Gerstl zu einer weitgehenden Auflösung von Formen und Konturen gefunden hat. Unser "Selbstbildnis" ist jedenfalls nach dem berühmten "Selbstbildnis vor blauem Hintergrund", das mit 1905 datiert wird, und wohl vor dem "Selbstbildnis mit Palette", das im Winter 1907 entstanden sein dürfte, gemalt worden. (EP / CMG)