0845
Franz West*
(Wien 1947 - 2012 Wien)
„Passstück“
1982-84
Papiermaché, Mullbinden, bemalt
43 × 20 × 8 cm
Eigenhändige Aufschrift an Unterseite: Oh Seufzer fliehe hin/wo ich nicht bin/und rühr die Lippen an/die ich nicht küssen kann/Omar Karjam
Provenienz
2012 im Auktionshaus im Kinsky erworben (92. Auktion, lot 262); seither Privatbesitz, Wien
Verzeichnet in der Franz West Privatstiftung, Wien.
Schätzpreis: € 25.000 - 50.000
Meistbot: € 35.000
Auktion ist beendet.
Ab 1974 beschäftigt sich Franz West mit Papiermachés und fertigt Plastiken in dieser Technik. 1980 werden diese seltsamen Gebilde erstmalig in der Galerie nächst St. Stephan ausgestellt, indem sie dort einfach an die Wände gelehnt werden. Dazu gibt es eine Art visuelle Gebrauchsanweisung, wo auf Fotos Personen bei der Benutzung der Objekte zu sehen sind. Im Text der Einladungskarte scheint der Begriff „Passstück“ auf: „Zu den Objekten: Die Objekte sollen verwendet werden. Sie bilden den potentiellen Versuch einer Formgebung neurotischer Symptome. Ihre Funktion als Paßstücke für den menschlichen Körper (die Haltung, die man dazu assoziiert) erlaubt unter anderem die Umkehrung von Leonardo da Vincis Einsicht, die Gesichtsmuskulatur gebe, als Projektion des übrigen Muskelsystems, Ausdruck über den Zustand psychischer Befindlichkeiten... Ihre Beziehung zu den jeweiligen Trägern verleiht den Objekten zusätzliche Dimension...“ (Veit Loers, Franz West, Collector’s Choice. Künstlermonographien. Friedrich Flick Collection, Band 5, Köln 2006, S. 11) Das Publikum wird also dezidiert dazu eingeladen, seine passive Rolle aufzugeben, nicht nur zu schauen, sondern die Werke zu verwenden, sie wie eine Art Prothese anzulegen oder als Stütze einzusetzen und so seiner Gefühlswelt Ausdruck zu geben. Die Kunst tritt somit aus dem Museum, aus der Galerie heraus in den Lebensraum.
In die Passstücke fließen persönliche Erinnerungsbilder des Künstlers ebenso ein wie die Formen traditioneller Alltagsgegenstände. So könnte man in vorliegendem Passstück einen Schöpflöffel oder eine Schleuder, aber im unteren Teil auch einen Kleiderbügel erkennen. Es gehört also zur Reihe der assoziativ gegenständlicheren Arbeiten, die neben weitaus abstrakteren Werken entstehen. Es spielt in diesem Objekt aber auch die Farbigkeit eine Rolle, die in den rein gipsweisen Ausführungen fehlt. Eine zusätzliche Bedeutungsebene verleiht Franz West dem Passstück durch die Anbringung eines Aphorismus: „Oh Seufzer fliehe hin wo ich nicht bin und rühr die Lippen an die ich nicht küssen kann.“ Er bereichert so die an sich abstrakte Plastik durch eine immaterielle Ebene, sie wird zu einer „Gedankenform, die den Übergang vom anschaulichen Ausdruck zum abstrakten Denken visualisiert und nachvollziehbar macht“ (Loers, S. 15). Das Passstück wird so zum Angelpunkt in der Kunst Franz Wests, er schafft damit ein „neues Instrumentarium, das die plastische, angewandte und sprachliche Ebene der Kunst zu einer neuen Gattung verbindet“ (Loers, S. 19). (Sophie Cieslar)