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Auktion: Antiquitäten

13. April 2016, 15:00 Uhr

0609

Neuromanischer Reliquienschrein

wohl Rheinland oder Niederrhein, um 1880
Silber über Holzkern getrieben, z. T. gegossen, punziert, vergoldet, z. T. emailliert; Figuren in Galvanotechnik, großteils vergoldet; diverse Schmucksteine (u. a. Lapislazuli, Rauchquarz, Rosenquarz, Granat, Amethyst, Karneol); schöner Erhaltungszustand, Schlüssel ergänzt
24,7 × 36 × 20 cm

Provenienz

seit ca. 40 Jahren in einer deutschen Privatsammlung

Literatur

Weiterführende Literatur zu den erwähnten Werkstätten und Vergleichsbeispielen:
Wolfgang Cortjaens, Rheinische Altarbauten des Historismus. Sakrale Goldschmiedekunst 1870 – 1918, Rheinbach 2002 (zugl. Phil. Diss. RWTH Aachen 1999);
Wolfgang Cortjaens, Kirchenschatz St. Peter zu Aachen. Sakrale Kunst aus vier Jahrhunderten im Spiegel der Pfarrgeschichte (= Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen, Bd. 49), Aachen 2003;
Ursula Demand/Johann Heinrich/Hubert Martin/Franz Vogeno, Eine Aachener Goldschmiedefamilie des Historismus, Phil. Diss. RWTH Aachen 1999 (online-Publikation);
Birgitta Falk, Etablissement Franz Xaver Hellner-Kempen/a Rhein 1844-1894. Eine niederrheinische Goldschmiedewerkstatt im Historismus, Krefeld 1994;
Anton Legner (Hg.), Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln, Ausst.-Kat. Schnütgen-Museum/Josef-Haubrich-Kunsthalle, 3 Bde., Köln 1985;
Werner Schäfke (Hg.), Goldschmiedearbeiten des Historismus in Köln, Ausst.-Kat. Kölnisches Stadtmuseum, Köln 1980

Schätzpreis: € 20.000 - 40.000
Auktion ist beendet.

Der neuromanische Reliquienschrein ist ein typisch eklektisches Produkt aus der Hochphase des Historismus, der, beginnend mit der neugotischen Bewegung ab ca. 1840, nach und nach alle älteren Stilepochen vereinnahmte und neu interpretierte. Es handelt sich in gleich mehrfacher Hinsicht um ein singuläres Stück, denn sakrale Goldschmiedearbeiten des 19. Jahrhunderts in dieser Größe und Qualität gelangen nur äußerst selten in den Kunsthandel. Kriegsverluste und die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) haben insbesondere den kirchlichen Ausstattungsstücken des 19. Jahrhunderts starke Verluste zugefügt. Vieles kam auf Umwegen in den Handel, daher konnte der Entstehungskontext des Schreins nicht mehr ermittelt werden. Weder ist der originale Reliquieninhalt erhalten, noch wurde bei Inaugenscheinnahme durch die Experten eine Marke, Beschauzeichen oder Stempel festgestellt.

Der Gesamtaufbau folgt den großen romanischen Reliquienschreinen des 12. Jahrhunderts, die sich insbesondere im Raum Rhein-Maas in großer Zahl erhalten haben. Auf vier Füßen ruht eine mit getriebenen Platten verkleidete Plinthe, die den längsrechteckigen Reliquienkasten in Form eines einschiffigen Kirchenbaus mit Satteldach trägt. An den Stirnseiten thronen unter Kleeblattbögen je drei halbplastische Heiligenfiguren auf zierlichen, vorn gerundeten Schemeln. Die Längsseiten gliedern sich in jeweils sechs analog zur den Stirnseiten gestaltete Segmente. Diese sind durch Doppelsäulen voneinander geschieden. Auch hier thronen in den Nischen je sechs halbplastische Statuetten auf zierlichen, vorn gerundeten Schemeln. Ein Vorbild für die architektonische Gliederung bietet etwa ein Retabel in St. Pantaleon in Köln (um 1170/90, Figurenschmuck verloren). Die Figuren bestehen aus Silber; die Gewänder sind partiell vergoldet.

Die Identifizierung des ikonographischen Programms wird durch den Verlust einiger Attribute erschwert. Die vermutete Hauptschauseite zeigt links die thronende Maria als Himmelskönigin, auf dem Schoß das Kind mit segnender Rechter und Kronreif, Marias linke Hand hält einen Kelch als Verweis auf den Opfertod Christi bzw. die Eucharistie. In der Mitte Christus (ehem. Attribute, wohl Zepter und Weltkugel, verloren), rechts der Apostel Petrus mit Schlüssel und Buch. An der gegenüberliegenden Stirnseite sind dargestellt (v.l.n.r.): ein heiliger Bischof (Mitra, Schärpe, Zepter, Buch), der Evangelist Matthäus (Fahne; Buch fehlt) und der Hl. Andreas (Gabelkreuz). Die mit einem gegenständig schraffierten Rautenmuster unterlegten Giebelzonen beider Seiten sind mit Cabochons in Klauenfassung sowie im Scheitelpunkt je einem facettierten, gefassten Kreuz aus Lapislazuli und Rauchquarz verziert.

Die durch das grün emaillierte, kreisförmige Schloss als Hauptschauseite ausgewiesene Längsfront zeigt v.l.n.r.: eine weibliche Gestalt mit Kronreif (das Attribut der rechten Hand verloren, in der Linken hält sie einen Palmzweig, der als Symbol des Sieges über Fleisch und Weltlichkeit das Attribut zahlreicher Heiliger ist), daneben wohl Philippus (Kreuzstab), der Apostel Johannes (Kelch), eine nicht identifizierte jugendliche Figur mit Pilgerstab und Essensschale, ein älterer Heiliger oder Evangelist mit kahler Stirn und einem Buch im Schoß, rechts außen ein bärtiger Heiliger mit kurzem Pilgerstab und Palmzweig. Die Figuren der rückwärtigen Langseite, an der sich das Scharnier zum Aufklappen des als Deckel dienenden Daches befindet, weisen größeren Variantenreichtum in der Durchbildung und eine bewegtere Gestik als die der Hauptschauseite auf. Die zweite und vierte Figur von links sind aufgrund fehlender oder unklarer Attribute nicht identifizierbar. Bei den übrigen handelt es sich um: links außen wohl Bartholomäus (gekrümmtes Messer), 3. Figur v. l. wohl Jakobus der Ältere (Pilgerflasche), die 5. Figur Moses (die Gesetzestafeln in der erhobenen Linken), rechts außen Simon der Zelote (Säge). Da gleich mehrere Figuren einen Bezug zur Pilgerfahrt-Thematik besitzen, könnte der Schrein ursprünglich für eine Kirche, die Teil des Jakobwegs war, angefertigt worden sein. Vermutlich enthielt er Reliquien eines lokalen Heiligen. Doch war es im 19. Jahrhundert durchaus auch üblich, verloren gegangene Stücke oder fehlende Tradition durch die Etablierung neuer Kulte zu kompensieren, wie das Beispiel der Aachener Kirche St. Peter zeigt, wo von der Pfarrgemeinde ab 1874 ein kompletter Reliquienschatz nebst neuen Behältern angeschafft wurde. Denkbar wäre auch, dass der Kasten ehemals zur Verwahrung von liturgischen Utensilien diente, vgl. dazu ein ebenfalls reich mit Email und Figuren verziertes Schreinchen zur Aufbewahrung von Salz und Watte im Schatz der Kirche St. Jakob in Aachen (1889, August Witte GmbH, ebd.).

Stilistisch erinnern die figürlichen Treibarbeiten an die Blütezeit der romanischen Goldschmiedekunst des 12. und frühen 13. Jahrhunderts im Rhein-Maasgebiet. Der sog. Muldenfaltenstil, bei dem die Knie und Gliedmaßen sich unter den Gewändern abzeichnen, evoziert die Sitzstatuetten des Heribertschreins in Köln-Deutz (um 1160/70) und den thronenden Christus an der Stirnseite des Aachener Karlsschreins (vollendet 1220). Sicherlich hat der unbekannte Goldschmied des 19. Jahrhunderts diese und andere kunsthistorisch bedeutenden Vorbilder im Sinn gehabt, als er seine freie ’Nachschöpfung’ eines mittelalterlichen Schreins schuf. Oft verfügten die Ateliers über eigens auf figürliche Entwürfe spezialisierte Modelleure. Ein bedeutendes Beispiel für diese Praxis ist der Quirinusschrein im Neusser Münster (1897-1900, August Witte GmbH, Aachen), dessen Figuren der früh verstorbene Firmen-Mitinhaber August Witte (II) schuf.

Zwischen Wand und Dachzone vermittelt umlaufend ein seriell gegossener, durchbrochener Blattfries. Dasselbe Motiv schließt als Bekrönung auch beide Giebelfronten ab. Vorder- und Rückseite des Daches sind identisch in vier durch Emailstreifen voneinander getrennte Felder gegliedert, deren Flächen mit einem gegenständigen schuppenartigen Rautengrund verziert sind. Je Feld ist ein stehender Engel mit ausgebreiteten Flügeln und einem Buch in der linken Hand appliziert. Diese serienmäßig hergestellten Figuren basieren auf demselben Gussmodell, sie fallen gegenüber den Sitzstatuetten der unteren Zone qualitativ ab.

Bei den Emails lassen sich vier verschiedene Grundtypen unterscheiden, die allesamt der rhein-maasländischen Ornamentik Mitte des 12. Jahrhunderts entlehnt sind. Der Eindruck weit größerer Vielfalt kommt durch die asymmetrische Anordnung sowie den Gebrauch unterschiedlicher Farben für die sich wiederholenden Motive zustande. Die Farbigkeit und Ornamentik der Emailplatten ist mittelalterlichen Stücken eng verwandt, so dass von einer profunden Kenntnis der potentiellen Vorbilder im Rheinland ausgegangen werden muss. Die komplizierte Technik des Emaillierens wurde bis um 1860 zunächst nur von einigen französischen Werkstätten (Poussièlge-Rusand u.a.) beherrscht; viele deutsche Goldschmiede gingen daher nach Paris in die Lehre.

Die hohe Qualität der Ausführung in allen Details macht eine Entstehung des Schreins in einer der bekannten rheinischen oder niederrheinischen Werkstätten wahrscheinlich. Eine präzise Zuschreibung ist nicht möglich, da viele Goldschmiedeateliers einzelne vorgefertigte Teile aus fremden Quellen bezogen. Näher in Betracht käme etwa Franz Xaver Hellner in Kempen. Hellner restaurierte um 1858 den Deutzer Heribertschrein und erwarb dabei genaue Kenntnisse der mittelalterlichen Techniken und Motive. Weiterhin zu nennen sind der Kölner Goldschmied Gabriel Hermeling, der Düsseldorfer Conrad Anton Beumers oder die in Aachen ansässigen Ateliers von Hubert Martin und Franz Vogeno, dessen Schüler Fritz Degen sowie die bis Ende der 1930er Jahre weltweit exportierende August Witte GmbH. (Wolfgang Cortjaens)