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Auktion: The Gustav Klimt Sale

24. April 2024, 17:00 Uhr

Objektübersicht
Objekt

0019

Gustav Klimt

(Wien 1862 - 1918 Wien)

„Bildnis Fräulein Lieser“
1917
Öl auf Leinwand; gerahmt
140 x 80 cm

Das Gemälde befindet sich in sehr gutem, unverändertem Originalzustand.
Einen detaillierten Restaurierungsbericht von Mag. Alexandra Grausam, Atelier Siebenstern Wien, stellen wir auf Anfrage zur Verfügung.

Zertifikat The Art Loss Register, London, 13. April 2023 wurde ausgestellt (ALS Ref: S00230833).
Eine rechtskräftige Bewilligung des Bundesdenkmalamtes (Bescheid vom 23. Oktober 2023) zur Ausfuhr des Gemäldes aus Österreich ist erteilt worden.

Das Kunstwerk wird im Auftrag der gegenwärtigen Eigentümer (österreichischer Privatbesitz) und den Rechtsnachfolgern von Adolf und Henriette Lieser aufgrund einer Vereinbarung im Sinne der Washington Principles versteigert.

Ergebnis: € 38.500.000 (inkl. Gebühren und österreichischer MwSt.)
Auktion ist beendet.
Das Auktionshaus behält sich vor, eine Sicherheit in Höhe von 10 % des oberen Schätzwertes in Form einer Bankgarantie oder einer vergleichbaren Besicherung zu verlangen. Bitte beachten Sie zudem, dass Kaufaufträge und Akkreditierungsanfragen bis 24 Stunden vor der Auktion beim Auktionshaus eingehen müssen, um eine vollständige Bearbeitung zu garantieren.

Provenienz:

Nachlass des Künstlers;
Henriette Lieser oder Adolf Lieser, Wien;
womöglich Kunsthandel, Wien;
seit den 1960er Jahren österreichischer Privatbesitz

Ausstellung:

Wien 1926, Neue Galerie, Otto Nirenstein, 23. Ausstellung, Gustav Klimt, 20. Mai-Ende Juni (Vgl. Notizblatt des Otto Kallir-Nirenstein, Archiv Neue Galerie, Nr. 384/7). Das Gemälde sollte in die Klimt-Ausstellung des Otto Kallir-Nirenstein aufgenommen werden, vermutlich wurde es dort jedoch nicht ausgestellt.
Die Schwarz-Weiß-Fotografie, Negativ 113.741, aus dem Bildarchiv der ÖNB (mit dem Vermerk: „Gustav Klimt. / Damenportrait (Frl. Lieser). Gemälde. / ANM.: 1925 in Besitz von Frau Lieser, IV., / Argentinierstrasse 20.") steht wohl im Zusammenhang mit einer Klimt-Ausstellung, die ursprünglich am 10. Oktober 1925 in den Räumen des Hagenbundes eröffnet werden sollte.

Literatur:

Johannes Dobai, Das Frühwerk Gustav Klimts, Diss., Wien 1958, Nr. 191, S. 169 (ohne Abb.);
Fritz Novotny/Johannes Dobai, Gustav Klimt. Katalog der Gemälde, Salzburg 1967, 1. Aufl., Nr. 205, S. 367, Tafel 103, s/w-Abb.;
Alice Strobl, Gustav Klimt. Die Zeichnungen 1912-1918, Bd. III, Salzburg 1984, S. 111f., s/w-Abb. S. 114 sowie Studien Nr. 2584-2605, S. 120-124;
Alfred Weidinger (Hg.), Gustav Klimt. Kommentiertes Gesamtverzeichnis des malerischen Werkes von Alfred Weidinger, Michaela Seiser, Eva Winkler, München u.a. 2007, Nr. 245, s/w-Abb. S. 306;
Dr. Hansjörg Krug, „Gustav Klimt‘s Last Notebook“, in: Renée Price (Hg.), The Ronald S. Lauder and Serge Sabarsky Collections, Katalog Neue Galerie New York, München u.a. 2007, S. 220f.;
Tobias G. Natter (Hg.), Gustav Klimt. Sämtliche Gemälde, Köln 2012, Nr. 235, s/w-Abb. S. 637;
Georg Gaugusch, Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800-1938. L-R, Wien 2016, S. 1899-1902;
Gustav Klimt-Database, Klimt-Foundation, Wien: https://www.klimt-database.com/de/klimt-werk/1914-1918/maler-der-frauen/ (abgerufen am 07.12.2023; „Unvollendete Aufträge und verschollene Porträts", ohne Abb.);
Olga Kronsteiner, Die lange Reise des "Fräulein Lieser", in: Der Standard, 20.02.2024, S. 19



Gustav Klimt im Ateliergarten Josefstädter Straße 21, um 1909

1 Gustav Klimt im Ateliergarten Josefstädter Straße 21, um 1909

Das „Bildnis des Fräulein Lieser“ von Gustav Klimt
Eine grandiose Wiederentdeckung

Claudia Mörth-Gasser

Ein bislang verschollen geglaubtes Frauenporträt aus der späten Schaffenszeit von Gustav Klimt steht für sich. Egal wo auf der Welt und in welchem Auktionssaal – die Versteigerung eines solchen Gemäldes wird auf der Bühne des internationalen Kunstmarktes als etwas Besonderes wahrgenommen. Dass dieses wiederentdeckte Spitzenwerk der österreichischen Moderne nicht nach London oder New York wandert, um seinen Besitzer zu wechseln, sondern in Wien offeriert werden darf, ist eine echte Sensation und hat Signalwirkung für den Markt des deutschsprachigen Raumes. Das „Bildnis des Fräulein Lieser“ gehört zu den letzten von Gustav Klimt geschaffenen Werken. Viele Jahrzehnte blieb es im Verborgenen in österreichischem Privatbesitz. Das Porträt ist in den wichtigsten Publikationen über das OEuvre Gustav Klimts dokumentiert und war der Fachwelt aus einem Schwarz-Weiß-Foto1 (Abb. 2) bekannt. Bloß im Ansatz zu erahnen waren die intensive Farbigkeit und malerische Offenheit des Gemäldes, die es in die Reihe der schönsten Bildnisse der letzten Schaffensperiode Klimts einordnen.

Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, s/w-Fotografie

2 Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, s/w-Fotografie

Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, alter Rahmen (wohl aus 1925)

3 Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, alter Rahmen (wohl aus 1925)

Entstehungskontext

Als Gustav Klimt „Fräulein Lieser“ – wie die Porträtierte in dem ersten, 1967 veröffentlichten Werkkatalog von Fritz Novotny und Johannes Dobai tituliert wird2 – malerisch verewigte, war diese eine junge Dame von noch nicht einmal zwanzig Jahren. Die Aufzeichnungen in Klimts Notizbuch aus dem Jahr 1917 verraten Näheres über die Entstehungsumstände des Porträts: Die Dargestellte besuchte im April und Mai 1917 neun Mal das Hietzinger Atelier Klimts in der Feldmühlgasse 11, um ihm Modell zu stehen.3 Meist geschah dies an Vormittagen, wie Klimts Notizen zu den Uhrzeiten der Besuche belegen. Aus einer Auflistung seiner Einkünfte in seinem Skizzenbuch (Abb. 13) desselben Jahres geht auch hervor, dass er am 18. Mai und am 27. Juni zwei Akontozahlungen von je 5.000 Kronen für das Porträt erhielt.4 Die Familie der Porträtierten gehörte zum Kreis des wohlhabenden Wiener Großbürgertums, in dem Klimt seine Mäzene und Auftraggeber fand. Die Brüder Adolf und Justus Lieser zählten zu den führenden Großindustriellen der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Sie hatten Pionierarbeit auf dem Gebiet der Jute- und Hanfindustrie in Österreich geleistet. Durch die prosperierende, in Pöchlarn an der Donau angesiedelte Fabrik „Lieser & Duschnitz, I. österreichische mechanische Hanfspinnerei, Bindfaden- und Seilfabrik“ war die Familie zur vermögenden Wirtschaftselite avanciert.5 Henriette Amalie Lieser-Landau, „Lilly“ genannt, war bis 1905 mit Justus Lieser verheiratet und die bekannteste Kunstförderin der Familie. Sie verkehrte in den künstlerischen Zirkeln der Avantgarde, war mit Alma Mahler jahrelang befreundet und unterstützte als Mäzenin die Komponisten Arnold Schönberg und Alban Berg.6

Gustav Klimt eilte der Ruf des brillanten Porträtisten voraus, was nicht nur hohe Preise für seine Bilder legitimierte, sondern ein von ihm gemaltes Bildnis auch zum Desiderat eines gebildeten, finanzkräftigen Publikums machte. Einiges spricht dafür, dass es die kunstaffine Lilly Lieser war, die Klimt mit einem Porträt beauftragt hat.7 Klimts Modell könnte unter Umständen – so legen neueste Recherchen zur Provenienz nahe7 – nicht Margarethe Constance Lieser8, Lilly Liesers Nichte, sondern eine ihrer beiden Töchter gewesen sein: entweder Helene, die ältere, 1898 Geborene oder deren um drei Jahre jüngere Schwester Annie (Abb. 4).9

Am 11. Jänner 1918 erlitt Gustav Klimt einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholen konnte. Er starb am 6. Februar 1918. Das Porträt des „Fräulein Lieser“ gehörte zu jener nicht geringen Zahl an Bildern, die Klimt in seinem Atelier zurückließ. Das Gemälde ging danach an die auftraggebende Familie.

Margarethe Constance Lieser, Helene Lieser, Annie Lieser.

4 Margarethe Constance Lieser, Helene Lieser, Annie Lieser.

Die Bildgenese: Vorstudien

Gab man ein Porträt bei Klimt in Auftrag, benötigte man neben finanziellem Rückhalt auch Geduld, war doch Klimt ein Perfektionist. Er arbeitete langsam, malte mit unermüdlicher Akribie und bereitete seine Gemälde durch viele Studien vor. Diese Zeichnungen, die ein wesentlicher Teil von Klimts Arbeitsprozess waren, zeigen Klimt als begnadeten Graphiker und haben – obgleich sie meist in Zusammenhang mit Gemälden entstanden – einen autonomen künstlerischen Stellenwert. Zum „Bildnis des Fräulein Lieser“ existieren mindestens 25 Studien.10 Nicht wenige dieser Zeichnungen sind heute Teil bedeutender musealer und privater Sammlungen, darunter das Leopold Museum in Wien, das Wien Museum, das Lentos Linz und die New Yorker Serge Sabarsky Collection.

Eine Studie aus der Sammlung im Leopold Museum hat einen bemerkenswert porträtähnlichen Charakter (Abb. 5).11 Sie gibt die Dargestellte en face und sitzend mit auf dem Schoß verschränkten Händen wieder. Im Umhang sind bereits Ornamentformen zu finden, an deren Stelle im Gemälde ein dichtes Blumenmuster tritt. Bei einer Zeichnung aus einer bedeutenden Privatsammlung variiert Klimt die sitzende Position durch eine leichte Seitwärtsdrehung, das Gesicht bleibt frontal dem Betrachter zugewandt (Abb. 6).12 Er studiert die hübschen Gesichtszüge seines Modells und legt einen Akzent auf den Ausdruck der Augen und die markante Bogenform der Augenbrauen. Im Gemälde ist es der wache, direkte Blick der jungen Frau, der ihr eine ausgesprochen einnehmende Präsenz gibt. Auch die wellige Kontur des Haares, die das Gesicht in der gemalten Version schön stilisiert einfasst, ist in dieser Bleistiftzeichnung angelegt.

Gustav Klimt, Studie für das Bildnis Fräulein Lieser, frontal sitzende Dame mit ornamentiertem Umhang, 1917, Leopold Museum, Wien

5 Gustav Klimt, Studie für das Bildnis Fräulein Lieser, frontal sitzende Dame mit ornamentiertem Umhang, 1917, Leopold Museum, Wien

Gustav Klimt, Studie für das Bildnis Fräulein Lieser, nach links Sitzende, Kniestück, 1917, Privatsammlung, New York

6 Gustav Klimt, Studie für das Bildnis Fräulein Lieser, nach links Sitzende, Kniestück, 1917, Privatsammlung, New York

(Kat.-Nr. 18) Gustav Klimt, Studie für das Bildnis Fräulein Lieser, stehend von vorne, 1917, Privatsammlung, Österreich

7 (Kat.-Nr. 18) Gustav Klimt, Studie für das Bildnis Fräulein Lieser, stehend von vorne, 1917, Privatsammlung, Österreich

Bei einer größeren Reihe von Studien setzt sich Klimt eingehend mit der Frontalansicht und der stehenden Haltung, für die er sich im Gemälde entscheidet, auseinander. Ein Blatt in Privatbesitz, das sich ehemals im Nachlass des Künstlers befand, zeigt jene streng frontale Komposition, die zu einem prägenden Merkmal des gemalten Bildnisses wird (Abb. 7).13 Die Stehende, über deren Schultern bereits ein an das Porträt erinnernder Umhang gelegt ist, wird oben und unten von der Blattkante fragmentiert und erscheint durch ihre Frontalität in der Fläche verankert. Das Oval der Gesichtsform bleibt hier ohne Andeutung der physiognomischen Züge. Mit grafischer Sensibilität tastet sich Klimt mittels zarter, teils auch kräftiger Linien zu einer weich fließenden Umrisszeichnung heran und findet so zur wunderbar rhythmisch geschwungenen Kontur der Porträtierten und ihres Umhangs im Gemälde.

Das Gemälde

Schließlich wählt Klimt ein Dreiviertelporträt in strenger, frontaler Haltung. Die Dargestellte wird unmittelbar an den Bildvordergrund gerückt, eine Spur vom oberen Bildrand entfernt und wie eine Stele aufragend in der Bildfläche positioniert – eine künstlerische Entscheidung, die ihr eine schwebende Wirkung verleiht. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das changierende Rot der Hintergrundfolie, die Einblicke in den Malvorgang gewährt: Punktuell hat Klimt hier Ornamente skizziert, zu deren malerischer Ausführung es nicht mehr kam (Abb. 8).

Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Details

8 Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Details

Das Inkarnat ist mit genauem Duktus gestaltet und lässt feinste Farbnuancen erkennen, etwa in den geröteten Wangen oder den blauen Schattierungen der Augenpartie und des Haaransatzes. Dagegen fallen breite Pinselstriche und ein teils schwerer, pastoser Farbauftrag in der weißen Bluse, dem lose herabfallenden grün-türkisen Kleid und im Umhang auf. Im Hintergrund werden die Pinselzüge länger, dynamisch und malerisch aufgelöst, manchmal grob gesetzt. Hier erreicht die Malerei eine erstaunliche Unmittelbarkeit, wobei das Rot links dichter ausgearbeitet ist und rechts partiell die grundierte Leinwand noch sichtbar bleibt. Meisterhaft beherrscht Klimt das Spiel mit Komplementärkontrasten und Farbresonanzen. Als bestimmendes Element der Farbkomposition kehrt das kräftige Rot des Umfeldes in den Wangen des Fräulein Lieser wieder und erfährt in ihren Lippen eine sinnliche Akzentuierung. In wirkungsvollem Kontrast zu den Rottönen steht das helle Grün des Kleides.

Anders als Paul Cézanne, der an allen Stellen des Bildes gleichzeitig arbeitete, um so zu einer Ausgewogenheit und Spannung der Bildkomposition zu gelangen, legte Klimt sein Augenmerk zunächst auf die subtil nuancierte Behandlung des Inkarnats. Das Gesicht und die schwarz konturierten Hände von Fräulein Lieser sind zur Gänze ausgeführt. Auch ihr Kleid und der floral ornamentierte Umhang weisen einen hohen Grad an Vollendung auf. Im Blumenmuster wird die Formbeschreibung an manchen Stellen großzügiger und der offene Malgrund spricht als Teil der Bildkomposition mit. Das noch weitgehend undefinierte Umfeld stand am Ende der Werkgenese. Die im roten Hintergrund erkennbaren Ornamente weisen auf den Beginn der Ausarbeitung eines die Figur umgebenden Dekors. Wie aber hätte Klimt diese grafisch umrissenen Formen malerisch weiterentwickelt? Andere Damenbildnisse der späten Schaffensjahre zeigen unterschiedliche Gestaltungsvarianten.

Gustav Klimt, Bildnis Mäda Primavesi, 1913, Detail, The Metropolitan Museum of Art, New York

9 Gustav Klimt, Bildnis Mäda Primavesi, 1913, Detail, The Metropolitan Museum of Art, New York

Zu den vollendeten Gemälden zählt das „Bildnis Elisabeth Lederer“14 (Abb. 20), das dem Lieser Porträt in der frontalen Haltung und der symmetrisch schwingenden Kontur nahekommt. In der oberen Bildhälfte gruppieren sich asiatische Figuren um Elisabeth Lederer und umfangen diese mit gebührendem Abstand wie eine Aureole. Das durch den Tod des Künstlers ebenso unvollendet gebliebene „Bildnis Ria Munk III“15 weist ein dichtes farbenfrohes Blütenarrangement auf. Die Figur Ria Munks wird in eine Blumenaura gehüllt, in die sich Ranken und Motive mit tiefem Symbolcharakter mischen.16 Eine überbordend ausgefüllte Gestaltung, die an einen „Horror vacui“ erinnert, wählt Klimt für das 1916 fertig gestellte „Porträt von Friederike Maria Beer“ (Abb. 27).17 Bei der „Dame mit Fächer“18 wiederum (Abb. 11) begegnet uns ein Streumuster aus von der asiatischen Kunst adaptierten Symbolen, die auf einer gelben Tapete verteilt sind.

Vorraum von Klimts Atelier, Feldmühlgasse 11, 1918

10 Vorraum von Klimts Atelier, Feldmühlgasse 11, 1918

Als Inspirationsquelle für sein Formen- und Motivrepertoire dienten Klimt unter anderem seine eigenen asiatischen Kunstgegenstände, mit denen er sich in seinem Atelier in Hietzing umgab. Dort befand sich auch ein von Josef Hoffmann entworfener Teppich, in dessen Muster sich ein Rautenmotiv findet, das in frappant ähnlicher Form im Lieser Bildnis wiederkehrt: Die Raute mit nach innen geschwungenen Seiten ist als ein Dekorelement im roten Hintergrund zeichnerisch angelegt. Die vereinzelt im Rot erkennbaren Vorzeichnungen des Lieser Porträts sind ein Indiz dafür, dass Klimt die Darstellung zwar noch durch ornamentale Akzente malerisch bereichert hätte, ihm jedoch nur mehr wenige Details fehlten. Denkbar ist eine eher sparsame Hintergrundkulisse, womöglich ähnlich jener, die wir aus dem pink-lilafarben vibrierenden und mit stilisierten Blumenmotiven belebten, oberen Bildgrund des Porträts der neun Jahre alten Mäda Primavesi kennen (Abb. 9).

Gustav Klimt, Dame mit Fächer, 1917, Privatsammlung

11 Gustav Klimt, Dame mit Fächer, 1917, Privatsammlung

Gustav Klimt war ein Maler, der bahnbrechende Veränderungen und neue Wege des künstlerischen Ausdrucks gesucht hat. Wird der Bogen von seinen sezessionistischen Arbeiten am Beginn der Moderne über seine Ikonen des Goldenen Stils bis zu seinem Spätwerk gespannt, so greift er stets neue Impulse auf, um seine genuine Bildsprache weiterzuentwickeln. Nachdem er das Gold hinter sich gelassen hatte, war es die Begegnung mit den Werken der Fauves und der Postimpressionisten, die seine Malerei in eine neue Richtung lenkte, in der die Farbe eine bildtragende Bedeutung erfuhr. Das „Bildnis des Fräulein Lieser“ spiegelt eindringlich wider, wie sehr er sich in seinen letzten Gemälden der Kraft des Kolorits und einer neuen gestischen Freiheit öffnete. Die koloristische Intensität des Bildes und die Hinwendung zu einer lockeren, offenen Pinselschrift zeigen Klimt am Höhepunkt seines späten Schaffens.

Klimts Atelier in der Feldmühlgasse 11 kurz nach dem Tod des Künstlers, 1918

12 Klimts Atelier in der Feldmühlgasse 11 kurz nach dem Tod des Künstlers, 1918

Der Tod des Malers im Februar 1918 kam der Fertigstellung des Porträts zuvor. Klimt selbst tat sich schwer mit dem Gedanken, ein Bild als vollendet anzusehen. Er arbeitete jahrelang an seinen Gemälden, stellte diese manchmal in unvollendetem Zustand aus und nahm später noch Änderungen vor. Das Lieser Gemälde gehört zu jenen späten Werken Gustav Klimts, deren besonderer Reiz auch in der Frage „vollendet unvollendet“ begründet liegt. Während große Teile des Gemäldes als fertig gemalt zu betrachten sind, harren einige wenige Details noch der finalen Bildwerdung. Die im roten Hintergrund angelegten linearen Muster lassen vermuten, dass Klimt nur mehr sehr sparsam Ergänzungen angebracht hätte. Doch ist nicht gerade der Charakter des Unvollendeten aus heutiger Sicht faszinierend, weil er die malerische Offenheit und Expressivität des Bildes forciert? Zweifellos spricht das in manchem noch „Unfertige“ unsere Neugier, Imagination und assoziativen Fähigkeiten in besonderem Maße an. Wie hätte Klimt weitergemalt? Hätte er uns noch mehr koloristische Raffinessen geboten? Und hätten diese die atemberaubende Schönheit des in ursprünglichem Zustand erhalten gebliebenen Gemäldes überhaupt noch steigern können?

1 Bildarchiv der ÖNB, Negativ 113.741.
2 Novotny/Dobai 1967, Nr. 205, S. 367.
3 Vgl. Krug, Gustav Klimt’s Last Notebook, in: Price 2007, S. 220–221. Wir danken Dr. Hansjörg Krug, der uns sein Typoskript „Gustav Klimts letztes Notizbuch“ aus 2007 zur Verfügung gestellt hat.
4 Strobl 1984, Bd. III, S. 242, Abb. c.
5 Vgl. Gaugusch 2016, S. 1899–1902.
6 Vgl. Irene Suchy, Lilly Lieser – Eine Co-Produzentin der Schönberg’schen Musikgeschichte, in: Österr. Musikzeitschrift 10, 2008, S. 6–16.
7 Vgl. die Erläuterungen von Ernst Ploil zu „Geschichte und Provenienz“ in diesem Katalog. Aufschlussreich sind die aktuellen Recherchen und Archivfunde von Olga Kronsteiner, die in einem Artikel der Tageszeitung „Der Standard“ veröffentlicht wurden. Vgl. Olga Kronsteiner, Die lange Reise des „Fräulein Lieser“, in: Der Standard, 20.02.2024, S. 19.
8 Alice Strobl identifizierte die Dargestellte als „Margarethe Constance Lieser“. Vgl. dazu Strobl 1984, Bd. III, S. 112. Weidinger (2007) und Natter (2012) folgten in ihren Werkverzeichnissen Alice Strobls Identifikation der Porträtierten.
9 Vgl. dazu auch Olga Kronsteiner, Freie Fahrt für Fräulein Lieser & Co bringen nur Restitutionen, in: Der Standard, 04.02.2024 (https://www.derstandard.at/story/3000000205811/freie-fahrt-f252r-die-klimts, abgerufen 06.03.2024).
10 Strobl 1984, Bd. III, Nr. 2584–2605, S. 120–124. Wir danken Frau Dr. Marian Bisanz-Prakken für den wertvollen Hinweis, dass sie zusätzlich zu den 22 im Werkverzeichnis von Alice Strobl publizierten Studien zum „Bildnis des Fräulein Lieser“ noch drei weitere Blätter in den Ergänzungsband zum Werkverzeichnis
der Zeichnungen aufnehmen wird.
11 Strobl 1984, Bd. III, Nr. 2603, Abb. S. 123.
12 Strobl 1984, Bd. III, Nr. 2605, Abb. S. 123.
13 Strobl 1984, Bd. III, Nr. 2587, Abb. S. 121.
14 Natter 2012, Nr. 212.
15 Natter 2012, Nr. 236.
16 Zur Symbolik des Gemäldes „Ria Munk III“ vgl. den Aufsatz von Marian Bisanz- Prakken, „Ria Munk III von Gustav Klimt. Ein posthumes Bildnis neu betrachtet“, in: Parnass, Heft 3/2009, Sept./Okt., S. 54–59.
17 Natter 2012, Nr. 145.
18 Natter 2012, Nr. 237.

Mag. Claudia Mörth-Gasser ist Kunsthistorikerin und gerichtlich zertifizierte Sachverständige. Sie leitet die Abteilung Klassische Moderne im Auktionshaus im Kinsky.

Geschichte und Provenienz

Ernst Ploil

Skizzenbuch 1917, Aufstellung der Einkünfte im Jahr 1917

13 Skizzenbuch 1917, Aufstellung der Einkünfte im Jahr 1917

Gustav Klimt vor seinem Atelier, Feldmühlgasse 11, 1917

14 Gustav Klimt vor seinem Atelier, Feldmühlgasse 11, 1917

Glaubt man den Verfassern des ersten der drei zum OEuvre Gustav Klimts veröffentlichten Werkverzeichnisses Dr. Johannes Dobai und Dr. Fritz Novotny1, 2, 6 so hat sich ein Mitglied der Familie Lieser Anfang des Jahres 1917 entschlossen, seine Tochter von Gustav Klimt porträtieren zu lassen. Klimt hat demnach den Auftrag im März 1917 angenommen; in den Monaten April und Mai 1917 saß – korrekt gesagt stand – „Fräulein Lieser“ dem Künstler neun Mal in dessen Atelier Modell. Es entstanden zumindest 25 Studien zu dem wohl noch im Mai 1917 begonnenen Ölgemälde3. Am 18. Mai und am 27. Juni 1917 kassierte Klimt von Lieser Teilzahlungen von jeweils 5.000 Kronen (Abb. 13)4, 5. Zur Zeit dieser Beauftragung war Gustav Klimt mit mindestens zehn weiteren Gemäldeprojekten beschäftigt; er war es gewöhnt, an vielen Kunstwerken gleichzeitig zu arbeiten. Am 11. Jänner 1918 erlitt er einen Schlaganfall, an dessen Folgen er am 6. Februar gestorben ist. Mindestens acht Gemälde waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollendet und befanden sich daher in seinem Atelier. Zu diesen unvollendeten Werken zählte auch das Porträt des Fräulein Lieser6.

Der Nachlass Gustav Klimts ist vor einem heute nicht mehr existierenden Bezirksgericht in Wien abgehandelt worden. Der Gerichtsakt ist nicht überliefert, wir wissen aber aus zeitgenössischen Quellen7, dass Klimt kein Testament hinterlassen hat und dass daher sein Nachlass unter seinen gesetzlichen Erben – vier Geschwistern und der Tochter eines vorverstorbenen Bruders – aufgeteilt worden ist. Die Unterhaltsansprüche seiner (unehelichen) Kinder und deren Mütter sind mit Einmalzahlungen abgegolten, die unvollendeten Gemälde ihren jeweiligen Auftraggebern ausgefolgt worden; das Porträt des Fräulein Lieser müsste daher Adolf Lieser ausgehändigt worden sein1. All das trifft nur zu, wenn man als Auftraggeber des Kunstwerks Adolf Lieser und als abgebildete Person dessen Tochter Margarethe Constance annimmt. Es existieren allerdings auch diametral entgegengesetzte Ansichten. Siehe hierzu Abs. 3.2.2.

Unser Gemälde hat in den Werkverzeichnissen des Dr. Alfred Weidinger2 und des Dr. Tobias Natter1 den Titel „Bildnis Margarethe Constance Lieser“ erhalten. Natter erläutert dazu, dass „das Fräulein Lieser“, wie Novotny/Dobai sie in ihrem Werkverzeichnis6 nennen, von Alice Strobl als Margarethe Constance Lieser identifiziert worden ist“3. Klimt habe, so Natter weiter, das Bild nicht mehr fertiggestellt, es sei nach dessen Tod „in unvollendetem Zustand an die beauftragende Familie der Dargestellten übergegangen“1.

Alice Strobl hat ihre Annahme, dass es sich bei der abgebildeten jungen Frau um Margarethe Constance Lieser handelt, auf eine „freundliche Mitteilung des Peter-Michael Braunwarth aus der Akademie der Wissenschaften“ gestützt. Die von ihr unter den Nrn. 2584 bis 2605 und Nr. 3697 als Darstellungen/Entwurfszeichnungen der Margarethe Constance Lieser bezeichneten Darstellungen stammen allesamt aus dem Nachlass Gustav Klimts, haben also ein anderes Schicksal gehabt, als das auf ihnen basierende Ölgemälde. Auf keiner findet sich ein Beweis dafür, dass es sich bei der dargestellten Person ausgerechnet um Margarethe Constance Lieser - und nicht um ein anderes Mitglied der Familie Lieser - handelt.

Aus den Aufzeichnungen des Johannes Dobai zu dem mit Fritz Novotny verfassten Werkverzeichnis6 geht hervor, dass er keine Überlegungen darüber angestellt hat, ob mehrere Personen für die von ihm verwendete Bezeichnung „Fräulein Lieser“ in Betracht kommen. Die Autoren Dr. Alfred Weidinger2 und Dr. Tobias Natter1 haben es offensichtlich ebenso gehalten, sie konnten allerdings einige erst jetzt hervorgekommene zeitgenössische Hinweise nicht berücksichtigen:

Bei einer Klimt-Retrospektive im Jahr 1925 in der Neuen Galerie des Otto Nirenstein in Wien sollte auch das „Bildnis des Frl. Lieser“ ausgestellt werden (Abb. 16). Von dort stammt auch die in den Werkverzeichnissen abgebildete Fotografie. Der zeitgenössische Kommentar zu diesem Foto8 lautet: Gustav KLIMT. Damenportrait (Frl. Lieser). Gemälde. ANM.: 1925 in Besitz von Frau Lieser, IV., Argentinierstrasse 20. (Abb. 15).

Inventarkarte zum Negativ „Bildnis Fräulein Lieser“

15 Inventarkarte zum Negativ „Bildnis Fräulein Lieser“

Notizblatt des Otto Kallir-Nirenstein für die Klimt-Ausstellung, Neue Galerie, Wien 1926

16 Notizblatt des Otto Kallir-Nirenstein für die Klimt-Ausstellung, Neue Galerie, Wien 1926

Diese „Frau Lieser“ hieß mit vollem Namen Henriette Amalie Lieser, geborene Landau, sie hatte Justus Lieser, den Bruder des in Abs. 1. Erwähnten Adolf Lieser 1897 geheiratet, sich von ihm 1905 scheiden lassen und in den ihr gehörenden Häusern Argentinierstraße 20 und 20a gewohnt. Ihrer Ehe entstammten drei Kinder, der kurz nach der Geburt gestorbene Max, die 1898 geborene Helene und die 1901 geborene Anna. Henriette Lieser entstammte der Familie Landau, war daher sehr vermögend, sie war künstlerisch interessiert und bewegte sich in Künstlerkreisen rund um Oskar Kokoschka, Alma Mahler, Alban Berg und Gustav Klimt. Ihre beiden Töchter lebten nach ihrer Scheidung noch lange Zeit bei ihr. Schon daraus kann man schließen, dass es Henriette Lieser – und nicht Adolf Lieser – gewesen ist, die Gustav Klimt mit der Schaffung eines Mädchenbildnisses beauftragt hat, dass sie es auch gewesen ist, die die von Hansjörg Krug4 aus dem Tagebuch des Gustav Klimt „entzifferten“ zwei Teilzahlungen von je 5.000 Kronen geleistet hat und dass ihr das Gemälde nach Klimts Tod ausgehändigt worden ist.

Die auf kulturbezogene Themen spezialisierte Olga Kronsteiner9 schloss in einem jüngst veröffentlichten Zeitungsbericht aus einem von ihr entdeckten Briefwechsel zwischen einem Bekannten eines (Nachkriegs)Eigentümers und einem Museumsdirektor namens Werner Hofmann, dass „nicht Silvia Lieser, Witwe nach Adolf Lieser, sondern Lilly Lieser damalige Besitzerin gewesen ist“.

Das Schicksal des Bildes nach der Ausstellung im Jahr 1926 in der Neuen Galerie haben wir nicht genau klären können:

Margarethe Lieser ist mit ihrer Mutter Silvia Lieser aus Österreich nach Ungarn emigriert, hat dort geheiratet, ist nach Großbritannien emigriert und dort gestorben. Sie kann das Bild nicht mit sich genommen haben, weil es nachweislich nie aus Österreich exportiert worden ist.

Außenansicht von Klimts Atelier in der Feldmühlgasse 11, 1918

17 Außenansicht von Klimts Atelier in der Feldmühlgasse 11, 1918

Henriette Lieser ist trotz der Okkupation Österreichs durch Nazi-Deutschland in Wien geblieben, wohnte weiterhin in ihrem Haus in der Argentinierstraße, wurde aber 1942 deportiert und 1943 in Auschwitz ermordet. Ihre Töchter sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Österreich zurückgekehrt und haben die Restitution ihrer Vermögenswerte durchgesetzt, allerdings unser Gemälde nirgends erwähnt, schon gar nicht zurückgefordert. Olga Kronsteiner mutmaßt in ihrem in Abs 3.2.2. erwähnten Aufsatz, dass Henriette Lieser das Kunstwerk vielleicht als Gegenleistung für Lebensmittel veräußert hat9.

In sämtlichen Werkverzeichnissen wird darauf hingewiesen, dass das Kunstwerk zu einem nicht näher genannten Zeitpunkt „im Kunsthandel“ gewesen ist. Ziemlich sicher ist, dass das Gemälde seit etwa Mitte der 1960er Jahre stets im Salon einer Villa in der Nähe Wiens, immer noch in jenem Rahmen, der anlässlich der Klimt-Retrospektive im Jahr 1925 montiert worden sein dürfte, aufgehängt gewesen ist. Für eine Transaktion im Kunsthandel existieren keine eindeutigen Beweise.

Gustav Klimt quert die Tivolibrücke auf dem Weg vom Schönbrunner Schlosspark zum Tivoli, um 1914

18 Gustav Klimt quert die Tivolibrücke auf dem Weg vom Schönbrunner Schlosspark zum Tivoli, um 1914

Diese Unklarheiten und historischen Lücken sind es gewesen, die die gegenwärtigen Eigentümer veranlasst haben, sich mit den Rechtsnachfolgern der Familie Lieser in Verbindung zu setzen und mit ihnen allen im Jahr 2023 eine „fair and just solution“ im Sinn der Washington Principles zu vereinbaren. Über den Inhalt dieses Übereinkommens ist Stillschweigen vereinbart worden; aber so viel kann bekanntgegeben werden, dass mit Versteigerung des Kunstwerks und Bezahlung des Meistbots sämtliche denkbaren Ansprüche aller Beteiligten abgegolten und erfüllt sein werden. Die Vereinbarung bedeutet daher im Ergebnis, dass es – aus juristischer Sicht – einerlei ist, wer das Gemälde bei Gustav Klimt in Auftrag gegeben hat und welche der drei in Betracht kommenden jungen Damen auf ihm abgebildet ist.

1 Natter 2012, Nr. 235, s/w-Abb. S. 637.
2 Weidinger 2007, Nr. 245, s/w-Abb. S. 306.
3 Strobl 1984, Bd. III, S. 111f., s/w-Abb. S. 114 sowie Studien Nr. 2584–2605,
S. 120–124. Dr. Marian Bisanz-Prakken wird – zusätzlich zu den 22 im Werkverzeichnis von Alice Strobl publizierten Studien – noch drei weitere Zeichnungen in den Ergänzungsband des Werkverzeichnisses aufnehmen.
4 Krug, „Gustav Klimt’s Last Notebook.“, in: Renée Price 2007, S. 220f.
5 Umrechnungskurs Kronen auf Euro (1 Gulden= ca. 2 Kronen; 1 Krone ca. 6 Euro; allerdings vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs).
6 Novotny/Dobai 1967, Nr. 205, S. 367, Tafel 103, s/w-Abb.
7 Brief des RA Hermann Höfinger, in: Sandra Tretter, Chiffre: Sehnsucht-25, Wien 2014, S.18.
8 Bildarchiv Österreichische Nationalbibliothek, Nr. 113.741.
9 Olga Kronsteiner: Die lange Reise des Fräulein Lieser; Der Standard 20.02.2024, S. 19.

Dr. Ernst Ploil ist Rechtsanwalt und auf Verfahren nach den „Washington Principles“ spezialisiert.

Von schwarz-weiß zu farbig – Zur Koloristik des wiederentdeckten Gemäldes „Bildnis Fräulein Lieser“ von Gustav Klimt

Franz Smola

Bis vor kurzem war das Aussehen des Gemäldes „Bildnis Fräulein Lieser“ von Gustav Klimt nur aufgrund einer einzigen Reproduktion bekannt, die überdies nur schwarz-weiß war.1 Dieses Schicksal teilte das Bildnis mit einer ganzen Reihe weiterer Werke von Gustav Klimt, die heute als verschollen gelten oder nicht mehr existieren. Das hängt zweifellos mit der bewegten Geschichte vieler Bilder Klimts zusammen und auch mit dem oft tragischen Schicksal ihrer früheren Eigentümer* innen. Diese erlitten in den Jahren zwischen 1938 und 1945 nicht selten Verfolgung, Vertreibung bis hin zur Ermordung in den Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Regimes, ihre Bilder wurden geraubt, versteigert oder gerieten unter die Räder der gnadenlosen Kriegsmaschinerie.

Die Farben im Bildnis des Fräulein Lieser

Dass ein rund hundert Jahre verschollen geglaubtes Gemälde wieder auftaucht, ist sensationell, nicht zuletzt deshalb, weil erstmals die koloristische Kraft des Bildes zu Tage tritt. Wer hätte vermutet, dass sich in den unansehnlichen, dunklen Grautönen, welche die schwarz-weiß-Reproduktion bisher vermittelte, ein so prachtvolles, ins Rot gehendes Orange im Hintergrund, ein ungewöhnlicher blaugrüner, eisiger Farbton im Kleid und eine Vielzahl von pastellhaft bunten Farben in dem geblümten Seidenschal verbergen! Das kräftige, geradezu laute rötliche Orange des Hintergrunds mag vielleicht die größte Überraschung darstellen.

Angesichts der Thematik des Bildes, nämlich die Darstellung einer eher verhalten wirkenden jungen Dame, hätte man sich vielleicht eine zartere Farbe erwartet, etwa ein helles Grün oder ein helles Blau. Tatsächlich kennt man die Farbe Orange aus weiteren, annähernd zur gleichen Zeit entstandenen Arbeiten Klimts, wie etwa aus dem Bildnis der Johanna Staude (Abb. 19), an dem Klimt noch in den letzten Wochen vor seinem überraschenden Schlaganfall gearbeitet hat.2 Sowohl beim Bildnis Staude als auch beim Bildnis Lieser kontrastiert der orange Hintergrund mit einem Blau in der Bekleidung, im Fall von Staude ein stark gemustertes Oberteil, im Fall von Lieser der lange, über die Schultern gelegte blaue Seidenschal, der auf seiner Rück- oder Vorderseite, je nachdem, ein dichtes Blütenmuster aufweist. Anders als im Fall des Bildnisses Lieser stellt das Porträt der Johanna Staude allerdings keine Auftragsarbeit dar, sondern gehört vielmehr zu jener besonderen, von Klimt relativ häufig gewählten Gattung von sogenannten Modebildnissen, die der Meister ohne Auftrag und ohne Honorar aus eigenem Antrieb heraus malte. Nicht der Porträtcharakter steht hier im Vordergrund, sondern die Lust des Künstlers an der Darstellung von eleganten, modebewussten Damen, bei denen es tatsächlich stets einen besonderen modischen Akzent zu sehen gibt.

Gustav Klimt, Bildnis Johanna Staude, 1917-1918, Belvedere, Wien

19 Gustav Klimt, Bildnis Johanna Staude, 1917-1918, Belvedere, Wien

Gustav Klimt, Bildnis Elisabeth Lederer, 1914-1916, Privatbesitz, New York

20 Gustav Klimt, Bildnis Elisabeth Lederer, 1914-1916, Privatbesitz, New York

Im Fall von Johanna Staude ist dies ihre spektakuläre blau gemusterte Bluse, die nach einem kunstvoll gedruckten Stoff der Wiener Werkstätte geschneidert war.3 Neben diesem spektakulären rötlichen Orange ist als weitere, durchaus ungewöhnliche Farbe im Bildnis Lieser das Blau des Umhangs zu nennen. Weder in den späten Bildern noch in den Werken aus früheren Perioden Klimts findet sich ein ähnlicher blauer Farbton. Einzig der Hintergrund im Bildnis der Elisabeth Lederer (Abb. 20), an dem Klimt von 1914 bis 1916 arbeitete, kommt dem Blau im Lieser-Bild nahe.4

Gustav Klimt, Bildnis Amalie Zuckerkandl, 1917–1918, Belvedere, Wien

21 Gustav Klimt, Bildnis Amalie Zuckerkandl, 1917–1918, Belvedere, Wien

Der eisig-blaue Hintergrund, der die in ganzer Figur dargestellte Tochter von August und Serena Lederer umfängt, tendiert allerdings im Vergleich zum wärmeren Blau im Lieser-Bild zu einem gräulichen Farbton, kontrastiert aber andererseits gleichfalls mit einem orangen Farbton, jenem des Bodenstreifens. Auch hinsichtlich ihrer Komposition sind beide Bilder vergleichbar, denn beide Damen stehen aufrecht und wenden sich frontal dem Maler zu. In beiden Fällen wird die en-face-Haltung durch ein vertikal sich auftürmendes Blumendekor betont, das beim Bildnis der Elisabeth Lederer als Hintergrundmotiv die Umrisse der Figur wie eine Pyramide begleitet, beim Lieser-Bild hingegen aus dem oben erwähnten, symmetrisch herabfallenden, geblümten Seidenschal gestaltet ist.

Schließlich bleibt noch das blasse, eisig wirkende Grün des Kleides des Fräulein Lieser zu erwähnen, eine Farbe, die auch selten in Klimts Palette anzutreffen ist. Ein vergleichbares Grün hatte Klimt als Hintergrund für sein nicht vollendetes Bildnis der Amalie Zuckerkandl (Abb. 21) vorgesehen, zumindest lassen die Lasuren, mit denen er den Hintergrund erst angedeutet hatte, darauf schließen.5

Gustav Klimt, Bildnis Eugenia (Mäda) Primavesi, 1913–1914, Municipal Museum of Art, Toyota

22 Gustav Klimt, Bildnis Eugenia (Mäda) Primavesi, 1913–1914, Municipal Museum of Art, Toyota

Die Bildnisse „Fräulein Lieser“ und „Amalie Zuckerkandl“ im Vergleich

Bei der Datierung des Bildnisses der Amalie Zuckerkandl besteht eine gewisse Unsicherheit darüber, ob Klimt die heute fertig erscheinenden Partien, also vor allem das Gesicht der Dargestellten, bereits 1913/14 geschaffen hat, zu einem Zeitpunkt, als er vermutlich auch die zahlreichen Studien auf Papier für dieses Porträt angefertigt hat, oder ob diese Partien erst 1917 entstanden sind. Das Bildnis Zuckerkandl weist eine stilistische Nähe zu den beiden 1913/14 entstandenen Porträts von Eugenia Primavesi6 und ihrer Tochter Mäda7 (Abb. 22 und Abb. 9) auf. Sowohl in den beiden Primavesi-Porträts als auch im Zuckerkandl-Bildnis bemüht sich Klimt um eine ungemein sorgfältige und plastische Ausgestaltung der Gesichter.

Das Bildnis des Fräulein Lieser zeigt eine ähnliche präzise Gestaltung der Gesichtszüge (Abb. 23). Diese lassen sich sogar erstaunlich gut mit jenen von Amalie Zuckerkandl (Abb. 24) vergleichen. Allein wie etwa die fein geschwungenen Augenbrauen der beiden Porträtierten höchst elegant gezogen sind, wie die Lippen sinnlich geformt erscheinen und – als bemerkenswertes Detail – wie in beiden Fällen die Pupillen von sichtbaren Glanzlichtern begleitet werden, überrascht und legt die Vermutung nahe, dass beide Werke in recht kurzem Abstand zueinander entstanden sein dürften. Damit dürfte das Bildnis von Amalie Zuckerkandl wohl doch erst 1917 seine heute sichtbare Ausgestaltung erhalten haben, die Klimt allerdings bereits in den Jahren 1913/14 gemeinsam mit den zeichnerischen Vorarbeiten begonnen haben könnte.

Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Detail des Gesichts

23 Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Detail des Gesichts

Gustav Klimt, Bildnis Amalie Zuckerkandl, Detail des Gesichts, Belvedere Wien

24 Gustav Klimt, Bildnis Amalie Zuckerkandl, Detail des Gesichts, Belvedere Wien

Die Frage nach dem Grad der Vollendung

Bei der Betrachtung des Lieser-Bildnisses stellt sich eine nicht unwesentliche Frage: Wie weit hat Klimt das Bild vollendet? Unbestritten ist, dass der Kopf, das Gesicht und die Hände der Dargestellten vollkommen fertig ausgeführt sind, hier spiegelt sich uneingeschränkt Klimts gestalterische Meisterschaft wider. Die Tatsache, dass dieses Bild nicht von Klimt signiert wurde, zeigt, dass er selbst das Porträt noch nicht als fertiggestellt ansah. Vermutlich hätte Klimt den Hintergrund des Bildes weiter ausgearbeitet. In welcher Weise, darüber kann man nur Mutmaßungen anstellen. Immerhin entdeckt man, wenn man näher auf den orange-farbigen Hintergrund des Lieser-Bildes blickt, die Andeutung von einigen mit Bleistift umrissenen Formen (Abb. 8). Dabei dürfte es sich um Dekorformen handeln, mit denen Klimt den Hintergrund möglicherweise noch beleben wollte. Ähnliche mit Bleistift vorgezeichnete Figurationen finden sich auch unter den blassgrünen dünnen Malschichten des Hintergrunds im bereits erwähnten Bildnis der Amalie Zuckerkandl. In beiden Fällen ist davon auszugehen, dass Klimt hier noch eine punktuelle dekorative Gestaltung des Hintergrunds vorgesehen hatte. Wie dieser konkret ausgesehen hätte, ist schwer zu sagen. Die zahlreichen Vorstudien in Bleistift, die sich sowohl für das Zuckerkandl-Bild als auch für das Lieser- Porträt erhalten haben, geben hierfür leider keine Auskunft. Denn generell hat Klimt die Gestaltung der Hintergründe bei seinen Bildnissen stets erst in einem sehr späten Arbeitsschritt konkretisiert, nachdem die Porträtierten bereits weitgehend Form angenommen hatten. Kaum haben sich Vorstudien für die Gestaltung der Hintergründe erhalten, diese dürfte Klimt erst direkt auf der Leinwand entwickelt haben.8 Möglicherweise wäre auch beim Lieser-Bildnis ein sparsam eingesetztes Streumuster die finale Lösung gewesen.

Die Frage ist, ob auch weitere Partien des Bildes von Klimt noch näher ausgearbeitet worden wären. Hier ist bei der Beurteilung allerdings große Zurückhaltung angebracht, denn Klimt legte stets erstaunliche Freiheiten in der malerischen Gestaltung an den Tag, die es uns kaum erlauben, ein endgültiges Urteil über vollendet und nicht vollendet zu fällen. Das Streumuster der Blumen auf dem langen Seidenschal im Lieser-Bildnis (Abb. 25 ) etwa sollte als bereits völlig fertig angesehen werden, auch wenn der Farbauftrag auf den ersten Blick überraschend dynamisch, geradezu skizzenhaft wirken mag. Doch gerade bei der Wiedergabe von dekorativen Elementen zeigte Klimt stets eine beachtliche kreative Vielfalt. Erinnert sei etwa an das bereits erwähnte Bildnis der Eugenia Primavesi (Abb. 26), bei dem Klimt eine ähnliche, verblüffend offene, gestische Handschrift bei der Beschreibung des gemusterten Kleides und des mit Dekorelementen kräftig akzentuierten Hintergrunds demonstriert. Das Bild wurde von Klimt aber in genau diesem Zustand den Auftraggebern übergeben, es trägt auch seine Signatur.9

Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Detail des Umhangs

25 Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Detail des Umhangs

Gustav Klimt, Bildnis Eugenia (Mäda) Primavesi, Detail des Kleides

26 Gustav Klimt, Bildnis Eugenia (Mäda) Primavesi, Detail des Kleides

Einen Grenzfall in der Beurteilung, ob vollendet oder unvollendet, bildet wohl die Darstellung des blassgrünen Kleides des Fräulein Lieser. Diese Partie hat Klimt tatsächlich sehr summarisch behandelt. Vielleicht hätte er den Faltenwurf genauer definiert und noch ein Schmuckstück oder eine Borte hinzugefügt. Doch selbst hier ist in der Beurteilung Vorsicht angebracht, denn Klimts eigenwilliger Malstil belässt nicht selten mit Absicht manche Partien kursorisch und grob in der Ausführung, um diese den detailliert ausgearbeiteten Stellen dann umso effektvoller gegenüberzustellen.

Klimts Honorar für das Bildnis des Fräulein Lieser

Erfreulicherweise sind aufgrund von Klimts eigenen Notizeinträgen die Arbeiten am Bild und auch die Zahlungen für das Bild gut dokumentiert. So hatte Klimt das Fräulein Lieser zu insgesamt neun Sitzungen eingeladen, die im April und Mai 1917 in seinem Hietzinger Atelier stattfanden. Im Mai und im Juni 1917 erhielt er jeweils eine Akontozahlung von 5.000 Kronen (Abb. 13).10 Im Vergleich dazu hatte Klimt für das Bildnis der Amalie Zuckerkandl im November und Dezember 1917 zwei Akonto-Zahlungen von je 2.000 Kronen erhalten.11 Der Grund für die wesentlich niedrigere Akonto-Zahlung für das Zuckerkandl- Bild lag wohl daran, dass dieses über weite Strecken noch nicht fertig gediehen war. Umgekehrt kann daraus geschlossen werden, dass angesichts der viel höheren Akonto-Zahlung für das Lieser-Bildnis dieses von Klimt und der auftraggebenden Familie vermutlich als bereits weitgehend fertiggestellt angesehen wurde.

Gustav Klimt, Bildnis Friederike Maria Beer, 1916, Museum of Art, Mizne Blumenthal Collection, Tel Aviv

27 Gustav Klimt, Bildnis Friederike Maria Beer, 1916, Museum of Art, Mizne Blumenthal Collection, Tel Aviv

Diese Summe von insgesamt 10.000 Kronen als Teilzahlung war ein durchaus üblicher Preis, den Kund*innen wenige Jahre zuvor für ein fertiges Porträt aus der Hand Klimts bezahlten. So hatte Karl Wittgenstein genau diese Summe für das 1905 fertiggestellte Porträt seiner damals 23-jährigen Tochter Margaret gezahlt.12 Aufgrund der kriegsbedingt einbrechenden Inflation hatten sich in darauffolgenden Jahren die Preise allerdings erhöht.

Für das 1916 vollendete Bildnis von Friederike Beer-Monti (Abb. 27) musste der Auftraggeber, Hans Böhler, zum Beispiel bereits 20.000 Kronen für das Bild seiner Freundin zahlen – bei aller inflationsbedingten Preissteigerung eine astronomische Summe für die damalige Zeit. Der Erinnerung Hans Böhlers zufolge hätte man sich dafür eine Villa am Genfersee kaufen können.13 Das mag vielleicht etwas übertrieben erscheinen, aber tatsächlich konnte man um die Jahrhundertwende um den Betrag von 40.000 Kronen, also dem rund vierfachen Wert eines Klimt-Porträts, eine Villa im Salzkammergut samt Einrichtung erwerben.14 Vermutlich hätte Klimt bei Abgabe des fertigen Lieser- Bildes mit einer weiteren Zahlung, möglicherweise von weiteren 5.000 Kronen, rechnen können, der endgültige Preis wäre dann bei 15.000 Kronen gelegen, womit das Bild auch für Klimts Verhältnisse in einer durchaus ambitionierten Preisklasse gelegen wäre.

Klimts Auftraggeber*innen und deren Erwartungen

Somit rangierten die Preise für Bildnisse aus Klimts Hand tatsächlich bereits zu seinen Lebzeiten in Kategorien, die nur mehr mit jenen für Liegenschaftswerte vergleichbar sind. Logischerweise konnte es sich bei den Auftraggeber*innen daher nur um äußerst vermögende Personen handeln.

Gerade dann, wenn kein persönliches Naheverhältnis zum Meister bestand, waren die Erwartungen der Auftraggeber wohl stark von den gesellschaftlichen Normen bestimmt. Ihr Anliegen war es, eine dem sozialen Rang entsprechende, möglichst repräsentative Darstellungsweise der in den Bildern festgehaltenen Personen vorzufinden. Indem Klimt im Bildnis des Fräulein Lieser eine gewisse Zurückhaltung der jungen Dame hervorhebt, ihr einen etwas scheuen Blick verleiht, dessen Ausdruck mit den für Klimt so typischen leicht geröteten Wangen noch unterstrichen wird, bestätigt und verstärkt er in gewisser Weise jenes „Jungmädchen“- Ideal, das für junge Fräulein aus bestem Hause damals oberste Geltung hatte.

Gustav Klimt, Bildnis Getrud Loew, 1902, Lewis Collection, London

28 Gustav Klimt, Bildnis Getrud Loew, 1902, Lewis Collection, London

Dem so einzigartigen wie legendären Verehrer und Apologet der weiblichen Schönheit Klimt lag wohl kein Sujet näher als eine solche repräsentative Bildwerdung hübscher junger Damen. Bereits über viele Schaffensjahre hinweg hatte er gerade in dieser Thematik zu seinen wohl höchsten Leistungen gefunden. Als Beispiel aus früheren Jahren mag etwa das Bildnis Gertrud Loews (Abb. 28) dienen, das Klimt 1902 gemalt hatte.15

Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Detail

29 Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Detail

In dem sinnlichen Schmelz der damals 19-jährigen Gertrud Loew, ihrem gleichfalls schüchternen Blick und einer Körperhaltung, die einmal mehr eine gewisse Verhaltenheit zum Ausdruck bringt, stellt uns Klimt den Inbegriff einer wohl behüteten jungen Dame vor Augen, die übrigens kurze Zeit später heiraten sollte. Auch im Bildnis des Fräulein Lieser hält Klimt an diesem „Jungmädchen“- Ideal fest, unbeirrt von den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen, denen sich die Menschen in Wien und Österreich-Ungarn fünfzehn Jahre später gegenübersahen. Wie in allen Gemälden, die Klimt in seinen späten Jahren schuf, prallt auch von dem von Schönheit und Harmonie erfüllten Lieser-Bildnis die Dramatik des realen Lebens vollkommen ab. Lediglich die Farben der Bilder und ihre Intensität haben sich über die Jahre verändert. Stellte das von Klimt 1902 gemalte Kleid der Gertrud Loew eine von den Zeitgenoss*innen vielbewunderte Symphonie in Weiß dar, präsentierte Klimt in seinem 1917 gemalten Bildnis des Fräulein Lieser eine vielstimmige, wohlklingende Symphonie von Frühlings- und Sommerfarben.

1 Die einzige Abbildung fand sich bisher in Novotny/Dobai 1967, Nr. 205, S. 367. Dort (S. 422) wird als Bildquelle auf das Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek verwiesen.
2 Natter 2012, Nr. 240.
3 Franz Smola, „Gustav Klimts Portrait of Johanna Staude (1917-1918): New Insights into the Subject and her Portrait´s Creation“, Belvedere Research Journal 1 (2023), https://doi.org/10.48636/brj.2023.1.101339.
4 Natter 2012, Nr. 212.
5 Natter 2012, Nr. 241.
6 Natter 2012, Nr. 207.
7 Natter 2012, Nr. 202.
8 „Letzte Schaffensjahre“, in: Gustav Klimt-Database / Klimt-Foundation, Wien:https://www.klimt-database.com/de/klimt-werk/1914-1918/maler-der-frauen. Abgerufen am 14.05.2023.
9 Anlässlich der Ausstellung „Klimt Inspired by Van Gogh, Rodin, Matisse“, Belvedere, Wien, 3. Februar – 29. Mai 2023, konnte dieses Bild in Wien bewundert werden.
10 Siehe Beitrag von Claudia Mörth-Gasser in diesem Katalog.
11 Strobl 1984, Bd. 3, S. 242.
12 Natter 2012, Nr. 169.
13 Martin Suppan, Hans Böhler: Leben und Werke, Wien: Edition M. Suppan, 1990, S. 36, zit. nach: Janis Staggs, Kommentar zum Gemälde Gustav Klimt, “Friederike Maria Beer”, in: „Modern Art at the Tel Aviv Museum of Art“, Museum of Art, Tel Aviv, geplante Veröffentlichung Herbst 2024. Für die Vorabübermittlung des Manuskripts danke ich Janis Staggs, Neue Galerie New York, ganz herzlich.
14 „Zitate und Bilder“, bearbeitet von Franz Smola, in: Tobias G. Natter, Franz Smola, Peter Weinhäupl (Hg.), Klimt persönlich. Bilder – Briefe – Einblicke (Kat. Ausst. Leopold Museum, Wien, 24. Februar–27. August 2012), Wien 2012, S. 285.
15 Natter 2012, Nr. 145.

Dr. Franz Smola ist Kurator für die Sammlung des späten 19. & frühen 20. Jahrhunderts an der Österreichischen Galerie Belvedere, Wien.

Weniger ist Mehr

Rainer Metzger

„Malen und zeichnen kann ich“, hielt Gustav Klimt einmal in einer Notiz fest, die sich in der Wiener Stadtbibliothek erhalten hat. „Das glaube ich und auch einige Leute sagen, daß sie das glauben. Aber ich bin nicht sicher, ob es wahr ist. Sicher ist bloß zweierlei: 1. Von mir gibt es kein Selbstporträt. Ich interessiere mich nicht für die eigene Person als ‚Gegenstand eines Bildes‘, eher für andere Menschen, vor allem weibliche, noch mehr jedoch für andere Erscheinungen. Ich bin überzeugt davon, daß ich als Person nicht extra interessant bin … 2. Das gesprochene wie geschriebene Wort ist mir nicht geläufig, schon gar nicht dann, wenn ich über mich oder meine Arbeit etwas äußern soll … Wer über mich – als Künstler, der allein beachtenswert ist – etwas wissen will, der soll meine Bilder aufmerksam betrachten und daraus zu erkennen suchen, was ich bin und was ich will.“1

Gustav Klimt im Malerkittel, 1902, aufgenommen im Mittelsaal der Wiener Secession vor der Eröffnung der XIV. Ausstellung, der sog. Beethovenausstellung

30 Gustav Klimt im Malerkittel, 1902, aufgenommen im Mittelsaal der Wiener Secession vor der Eröffnung der XIV. Ausstellung, der sog. Beethovenausstellung

Klimt sieht sich „als Person nicht extra interessant“. Er erteilt auf bezeichnende Weise jedem VIP-Effekt seine Absage, und was hier zurückgenommen wird, lässt sich auf den folgenden Punkt bringen: Das Ich des Künstlers ist weniger wichtig als das Selbst des OEuvres. Es ist nicht das große Ego einer kreativen Gestalt, die sich mit Haut und Haaren im Werk geltend macht; dieses Werk führt vielmehr ein Eigenleben. Womöglich ist es eine Generationenfrage, Klimt bleibt Vertreter des 19. Jahrhunderts, seiner Ideale der Autonomie und seiner Kunstkulte. In der artifiziellen Welt seines Schaffens kreisen die Motive buchstäblich um sich - um sich selbst. Und auch die Menschen, die er zeigt, sind mit sich selbst beschäftigt: mit ihrer Erotik; mit ihrem Alter; mit ihrem Aussehen und mit ihrer Ausstaffierung; mit den Be- und Vorfindlichkeiten ihres Leibes. Da gibt es dann, so formuliert Klimt eloquent, nicht viel zu äußern. Da genügt es zu zeigen.

Gruppenbild von Mitgliedern der Wiener Secession anlässlich der XIV. Ausstellung, 1902.

31 Gruppenbild von Mitgliedern der Wiener Secession anlässlich der XIV. Ausstellung, 1902. Hintere Reihe von links nach rechts: Anton Nowak, Gustav Klimt, Adolf Böhm, Wilhelm List, Maximilian Kurzweil, Leopold Stolba, Rudolf Bacher; Vordere Reihe von links nach rechts: Kolo Moser, Maximilian Lenz, Ernst Stöhr, Emil Orlik, Carl Moll.

Eine der bezauberndsten Zeigegesten seines Oeuvres setzt Klimt mit dem soeben aufgetauchten Porträt einer jungen Dame, von der man weiß, dass sie mit Nachnamen Lieser hieß. Lapidarität ist nicht unbedingt eine Qualität bei diesem Meister, im Gegenteil, bisweilen quollen die Bilder über vor Gesuchtheit und Prätention. Ein Stil der exaltierten Stilisierung ist bis heute sein Markenzeichen, und das Wort „golden“, das ebenso ein Material beschreibt wie eine Anmutung, trifft es schon sehr gut. Klimt war im Einklang mit dem Geschmack eines Publikums, das sich seiner ästhetischen Maßstäbe so wenig sicher sein konnte wie seiner gesellschaftlichen Stellung. Es war alles ein wenig prekär, und die Kokons aus Kostbarkeit, in die er seine luxuriösen Geschöpfe barg als wäre es naturgegeben, verweisen die Porträtierten – es sind „vor allem weibliche“ – ins psychosoziale Milieu des Interieurs. Doch dann zieht eine ungeahnte Offenheit in den Elfenbeinturm.

Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Detail

32 Gustav Klimt, Bildnis Fräulein Lieser, Detail

Gustav Klimt, Bildnis Adele Bloch-Bauer II, 1912, Detail, Privatbesitz

33 Gustav Klimt, Bildnis Adele Bloch-Bauer II, 1912, Detail, Privatbesitz

Vielleicht machte Klimt im Herbst 1909 die Reise nach Spanien und Frankreich, weil er sich verändern wollte, oder womöglich frischte umgekehrt die Fahrt, die er mit seinem Kollegen und Secessions- Mitstreiter Carl Moll unternahm, die Routine auf. „Aus ist’s mit den Quadrateln“, schrieben die beiden an den daheim gebliebenen Josef Hoffmann, den Hoch- und Staatsmeister der Wiener Dominanz des Dekors. Aus war es nicht nur mit dem quadratischen Schematismus des Secessionsstils. Aus war es auch mit dem überbordenden Hang zum Gesamtkunstwerk, der sie vereinte. Klimt verabschiedet sich von allem, was nicht zur Orthodoxie des Malens und Zeichnens gehört. Kein Gold, keine Plättchen, keine Retortenstücke. Ein Gemälde ist Farbe auf Leinwand, und das wird jetzt zur Kenntlichkeit gebracht. Sein Publikum, womöglich froh um diesen gelinden Ordnungsruf, schlägt die Volte mit. Wie es aussieht, steigert es sogar die Zuwendungen an Geld und Geduld für ein Werk von seiner Hand.

Gustav Klimt im Jahr 1917 im Alter von 55 Jahren

34 Gustav Klimt im Jahr 1917 im Alter von 55 Jahren

Es ist ein großer Begriff, Schlüssel zur Meistererzählung vom 20. Jahrhundert: Modernismus. Und man kann sagen, Klimt hat sich eingereiht in die Phalanx der Erneuerer, deren weltbewegende Weisheit darin bestand zu erkennen, dass Malerei ein Gemenge an Buntheit auf einem flachen Untergrund ist. Vielleicht war es Henri Matisse, der diesen Sachverhalt bis dahin am schlüssigsten beherzigt hatte und in Paris nun Klimt den Weg wies. Und vielleicht war es ebendort Edouard Manet, die Gründergestalt des Modernismus, der von der Vergangenheit her unterstützte.

Das Gesicht des Fräulein Lieser also, mit der souveränen Austarierung seiner Züge und der konkreten Feststellung dessen, woraus ein Gesicht nun einmal besteht: Diese Einvernahme des Fazialen lässt Revue passieren, wie Manet sein bevorzugtes Modell Victorine Meurent auf die Leinwand brachte.

In späten Jahren wird Klimt ein genuiner Moderner, ein Verfechter des Weniger ist Mehr, ein Vorreiter des Zeitgemäßen. Und genau darin bleibt er dem 19. Jahrhundert verhaftet: Er findet zu seinem ureigenen „Être de son temps“ eben in späten Jahren. Gehörte er ganz ins neue Säkulum, vollzöge sich derlei im Frühwerk. Dafür sind dann ein Schiele oder Kokoschka zuständig. Klimt ist kein Avantgardist. Um so deutlicher erweist er sich als Modernist.

1 Otto Breicha (Hg.), Klimt – Die Goldene Pforte. Bilder und Schriften zu Leben und Werk, Salzburg 1978, S. 33.

Prof. Dr. Rainer Metzger ist Kunsthistoriker, Kurator und Kritiker. Seit 2004 lehrt er an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu kunsthistorischen Themen, unter anderem verfasste er das 2005 im Brandstätter Verlag erschienene Buch „Gustav Klimt. Das grafische Werk“.

Gustav Klimt

  1. 1862

    Gustav Klimt wird am 14. Juli als Sohn des Graveurs Ernst (1834–1892) und seiner Frau Anna Klimt (1836–1915, geb. Finster) in Baumgarten bei Wien geboren.

  2. 1876–1883

    Mit seinem Bruder Ernst (1864–1892) wird Gustav Klimt an der Kunstgewerbeschule des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie aufgenommen und bis 1883 ausgebildet. Die Brüder lernen dort Franz Matsch (1861–1942) kennen.

  3. 1883–1891

    Die Brüder Klimt und Franz Matsch gründen die „Künstlercompagnie“. Das Kollektiv bezieht ein eigenes Atelier und erhält bis 1892 bedeutende Ausstattungsaufträge: die Dekorationen der Theater in Fiume (Rijeka), Karlsbad und Bukarest entstehen sowie die Deckengestaltung der Hermesvilla in Lainz. Danach folgen die Aufträge für die Fresken in den Treppenhäusern des neu erbauten Wiener Burgtheaters und im Kunsthistorischen Museum in Wien.

  4. 1892

    Tod des Vaters sowie des Bruders Ernst Klimt im Juli. Klimt übernimmt die Vormundschaft für seine Nichte Helene. Auflösung der Künstlercompagnie.

  5. 1894

    Auftrag für die Fakultätsbilder für die Aula der Universität Wien. Klimt entwirft die „Philosophie“, die „Medizin“, die „Jurisprudenz“ und die Zwickelbilder, Matsch die „Theologie“. Nach jahrelangen Kontroversen wird Klimt den Auftrag 1905 zurückweisen.

  6. 1897

    Austritt aus dem Künstlerhaus. Klimt ist Gründungsmitglied der Wiener Secession und wird deren erster Präsident.

  7. 1898

    Mit dem Bildnis „Sonja Knips“ beginnt Klimts Aufstieg zum gefragten Porträtmaler der gehobenen Wiener Gesellschaft. Erste Landschaftsgemälde entstehen bei der Sommerfrische mit der Familie Flöge im Salzkammergut.

  8. 1902

    Anlässlich der 14. Ausstellung der Wiener Secession wird Klimts Beethovenfries präsentiert. Klimt porträtiert die neunzehnjährige Gertrud Loew.

  9. 1903

    Reisen nach Italien, Ravenna und Rom, wo er künstlerische Impulse für die „Goldene Periode“ findet. Große Klimt-Kollektive in der Secession mit über 80 Werken. Gründung der Wiener Werkstätte.

  10. 1904

    Josef Hoffmann wird vom belgischen Industriellen Adolphe Stoclet mit dem Bau eines Palais in Brüssel beauftragt. Klimt übernimmt die Gestaltung des Marmorfrieses im Speisezimmer.

  11. 1905

    Austritt der Klimt-Gruppe, der unter anderem Carl Moll und Josef Hoffmann angehören, aus der Secession.

  12. 1907

    Porträt „Adele Bloch-Bauer I“

  13. 1908–1910

    Die Klimt-Gruppe veranstaltet die „Kunstschau“ auf dem Gelände des heutigen Konzerthauses in Wien. Dort stellt Klimt sein Gemälde „Der Kuss“ aus, das vom Unterrichtsministerium für die Moderne Galerie im Belvedere erworben wird. Die Parisreise 1909 bringt wichtige künstlerische Anregungen und leitet das Ende der „Goldenen Periode“ ein. 1910 nimmt Klimt an der 9. Biennale in Venedig teil.

  14. 1911

    Klimt zieht in sein letztes Atelier in Wien 13, Feldmühlgasse 11. Bei der Internationalen Kunstausstellung in Rom wird das Gemälde „Tod und Leben“ mit dem ersten Preis ausgezeichnet.

  15. 1912–1916

    Farbenfrohe Damenporträts entstehen: unter anderem „Adele Bloch-Bauer II“, „Mäda Primavesi“, „Eugenia Primavesi“, „Elisabeth Lederer“ und „Friederike Maria Beer“. Klimt stellt in Budapest, München, Mannheim, Prag und Rom aus. Im Sommer 1916 reist Klimt zum letzten Mal mit Emilie Flöge an den Attersee.

  16. 1917

    Klimt arbeitet an mehreren Werken gleichzeitig, von denen er keines zur Gänze fertig stellen wird: „Die Braut“, „Adam und Eva“, die „Dame mit Fächer“, „Der Iltispelz“, die Porträts „Amalie Zuckerkandl“, „Johanna Staude“, „Ria Munk III“, „Damenbildnis in Weiß“, „Damenbildnis en face“ und das „Bildnis Fräulein Lieser“.

  17. 1918

    Klimt stirbt am 6. Februar an den Folgen eines Schlaganfalls. Die unvollendeten Gemälde lässt er unsigniert im Atelier zurück.

Abbildungsnachweis

Abb.

1 Foto Pauline Hamilton, Privatbesitz
2 Bildarchiv ÖNB, Negativ Nr. 113.741
3 © Auktionshaus im Kinsky GmbH, Wien
4 Helene Lieser: Wiener Illustrierte Zeitung, Jg. 29, Heft 40, 4. Juli 1920, S. 574; Annie Lieser: Foto Madame d’Ora, abgebildet in: Moderne Welt, Jg. 4, Heft 8, Jänner 1923, S. 6.
5 Inv. Nr. LM 1340 © Leopold Museum, Wien
6 Tobias G. Natter (Hg.), Klimt and the women of Vienna‘s Golden Age: 1900–1918., (Kat. Ausst. Neue Galerie, New York, 22. September 2016–15. Jänner 2017), München, London, New York 2016, Farbabb., S. 179
7 © Auktionshaus im Kinsky GmbH, Wien
8 © Auktionshaus im Kinsky GmbH, Wien
9 © The Metropolitan Museum of Art, New York.
10 Foto Moriz Nähr
11 Foto: Archivart / Alamy Stock Photo, abgebildet in: Tobias G. Natter, Gustav Klimt: Interiors, München/London/New York 2023, Tafel 38, S. 181
12 Foto Moriz Nähr
13 Strobl 1984, Bd. III, S. 242, Abb. c
14 Foto Moriz Nähr, Neue Galerie New York
15 Bildarchiv ÖNB Wien, Nr. 113.741
16 © Belvedere, Wien
17 Foto Moriz Nähr, ÖNB Wien © ÖNB Wien, Inv. Nr. 94882 E
18 © ÖNB Wien, Inv. Nr. PF 31931 C(3)
19 Inv. Nr. 5551 © Belvedere, Wien
20 © Verlag Galerie Welz, Salzburg.
21 Inv. Nr. 7700 © Belvedere, Wien
22 © Municipal Museum of Art, Toyota.
23 © Auktionshaus im Kinsky GmbH, Wien
24 Inv. Nr. 7700 © Belvedere, Wien
25 © Auktionshaus im Kinsky GmbH, Wien
26 © Municipal Museum of Art, Toyota.
27 Natter 2012, S. 629
28 © Verlag Galerie Welz, Salzburg.
29 © Auktionshaus im Kinsky GmbH, Wien
30 Foto Moriz Nähr, ÖNB Wien © ÖNB Wien, Inv. Nr. Pf 31931 D (3a)
31 Foto Moriz Nähr, ÖNB Wien © ÖNB Wien, Inv. Nr. 94924 D
32 © Auktionshaus im Kinsky GmbH, Wien
33 Natter 2012, S. 618
34 Foto Moriz Nähr
35 Foto Moriz Nähr

Gustav Klimt mit Katze im Garten seines Ateliers in der Josefstädter Straße 21, 1912

35 Gustav Klimt mit Katze im Garten seines Ateliers in der Josefstädter Straße 21, 1912