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Gustav Klimt
(Wien 1862 - 1918 Wien)
„Schwebender Greis nach rechts (Studie im Zusammenhang mit der Übertragungsskizze für „Die Medizin", 1901-1907)“
1899/1900
Schwarze Kreide auf Papier; gerahmt
44,4 x 31,8 cm
Nachlass-Bestätigung Hermine Klimt rechts unten: Nachlaß meines Bruders Gustav / Hermine Klimt
Provenienz
Nachlass des Künstlers (Hermine Klimt, Schwester des Künstlers);
österreichischer Privatbesitz
Dr. Marian Bisanz-Prakken (Albertina, Wien) wird diese Zeichnung in den Ergänzungsband zu dem von Alice Strobl publizierten Werkverzeichnis der Zeichnungen von Gustav Klimt aufnehmen.
Schätzpreis: € 8.000 - 16.000
Meistbot: € 8.000
Auktion ist beendet.
Für Klimts künstlerischen Werdegang war die intensive Arbeit an den beiden Monumentalbildern „Die Philosophie“ (1900-1907) und „Die Medizin“ (1901-1907), die die Decke der Aula der Wiener Universität dekorieren sollten, von einschneidender Bedeutung. Hauptthema sind die im Kosmos vorbeiziehenden Ketten von Aktfiguren, die den Kreislauf des Lebens, beziehungsweise die körperlichen und seelischen Leiden der Menschheit allegorisieren. In diesem Kontext fand Klimt als Maler wie auch als Zeichner einen völlig neuen Zugang zum nackten Körper. In seinem Atelier ließ er reihenweise unbekleidete Männer, Frauen und auch Kinder posieren – alt und jung, schön und hässlich, kräftig oder dem Verfall preisgegeben. Blatt für Blatt ging er anhand der Stellungen und Gesten seiner Modelle der Essenz einer bestimmten Lebenssituation oder Stimmungslage auf den Grund.
Die hier präsentierte, bisher unbekannte Studie eines schwebenden, zusammengekrümmten Greises lässt sich einer Gruppe sehr ähnlicher Zeichnungen zuordnen (Strobl I, Nr. 586-589, insbesondere Nr. 587). In seiner um 1900 für „Die Medizin“ gezeichneten Übertragungsskizze (Strobl I, Nr. 605) sollte Klimt diese Studiengruppe für eine spiegelbildliche Wiedergabe des Modells heranziehen. In Klimts modernen Lebensallegorien verbinden sich schonungslos dargestellte alte Menschen zumeist mit dem Ausdruck der Verzweiflung über das nahende Lebensende – so auch im vorliegenden Fall. Die inspirierende Wirkung der in Wien ausgestellten Skulpturen von Rodin ist nicht zu übersehen und wird auch mehrfach erwähnt.
Klimts Umgang mit diesen Anregungen ist jedoch höchst authentisch. Eigentlich gibt er das hochbetagte Modell in seitlich liegender Stellung wieder und beobachtet es von oben; durch die leichte Untersicht trägt er dem Umstand Rechnung, dass das Gemälde als Teil einer Deckengestaltung geplant war. Um die Illusion des kosmischen Schwebens zu verinnerlichen, verzichtet Klimt in dieser Studie auf jegliche Andeutung einer stützenden Unterlage, wodurch der alte Mann in seiner völlig leeren Umgebung den Schicksalsmächten scheinbar schutzlos ausgeliefert ist. Dabei wird den Konturen, die die psychologische Grenze zwischen dem Innenleben des „Schwebenden“ und der kosmischen Leere zu beschreiben scheinen, eine radikal neue Funktion zuteil. Diese expressive, „hässliche“ Seite von Klimts moderner Linienkunst wird – zu Unrecht – oft vernachlässigt und kommt in der vorliegenden Studie eindrucksvoll zur Geltung.
(Marian Bisanz-Prakken)