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Auction: Art Nouveau & Design

17. April 2012

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0110

George Minne

(Gent 1866 - 1941 Laethem-St. Martin)

„Solidarité“

Estimate: € 180.000 - 350.000
Result: € 115.200 (incl. fees)
Auction is closed.

George Minne
(Gent 1866-1941 Laethem-St. Martin)
Marmorskulptur: Solidarité (Fraternité)
Modell des Volders-Denkmal
Enwurf: 1897-1898
Carrara-Marmor; zwei einander auf einem Boot gegenüberstehende Jünglinge; unsigniert;
Höhe: 67,5 cm, Länge: 54 cm, Tiefe: 23,8 cm

Provenienz: Erben des Carl von Reininghaus, deutscher Privatbesitz.

Wir bedanken uns bei Frau Dr. Bisanz-Prakken von der Albertina, Wien für Ihre wertvolle Unterstützung.

Literatur: Auktionskatalog: Gemälde und Antiquitäten aus dem Nachlasse Carl (v.) Reininghaus, Wertvolle Musikinstrumente und Künstlerdokumente aus dem Nachlasse Ernst Löwenfeld, Mobiliar und Kunstgegenstände aus Wiener Privatbesitz, Auktionshaus für Altertümer, Glückselig Gesellschaft m.b.H., 29. und 30. Mai 1933, S. 12, Abb. 178; Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen, Inventarnummer 4790, De solidariteit, La barque humaine, Exemplare in Marmor: Museum of Art, Cleveland, Narodni Galerie, Prag; Deutsche Kunst und Dekoration, 1905, Bd. I., S. 6f.; Hevesi, Acht Jahre Secession, Wien 1906, S. 293; Museum voor Schone Kunsten, Gent, Hoozee, Tahon-Vanroose, Alhadeff, George Minne en de kunst rond 1900, S. 4, S. 144ff.; van de Velde, Geschichte meines Lebens, München 1962, S. 120; Musees Royaux des Beaux-Arts de Belgique, Art Moderne, Constantin Meunier - George Minne. Dessins et sculptures, Bruxelles, 1969, S. 3, Nr. 87; De Ridder, George Minne, Monographies de L'Art Belge, Antwerpen 1947, S. 8, Abb. 12; Herbert, The Artist and social Reform. France and Belgium 1885-1898, New Haven, 1961; Peters, George Minne in: Price (Hrsg.), Neue Welten - Deutsche und österreichische Kunst 1890-1940, Köln 2002, S. 36; Kessler (Graf), Kamzelak, Ott, Simon, Volke, Zeller, Das Tagebuch 1880-1937, 1897-1905, Stuttgart 2004, S. 133f.;
Paul, von Tschudi, Hugo von Tschudi und die moderne französische Kunst im Deutschen Kaiserreich, Augsburg 1993, S. 386; Lennep, La Sculpture belge au 19ème siècle, Bruxelles 1990; Schweiger, Wiener Werkstätte – Kunst und Handwerk 1903-1932, Wien 1982, S. 25, S. 28; Hohenzollern (Prinz von), Schuster, Neue Pinakothek, München, München 1996, S. 196.

Ausstellungen: u.a. 1898, Brussel (Nr. 272, Esquisse pour le monument Volders, Gips); VIII. Secessionsausstellung, Wien; 1900, Wenen /Nr. 321, Skizze für Volders Monument, Bronze); 1911, Keulen (Nr. 79, Zwei Knaben auf einem Floss, Bronze); Brussel, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Solidarité, Inv. Nr. 4790, 1969; Neue Pinakothek, München 1996, Zwei Knaben in einem Boot.

George Minne war einer der Proponenten des nordeuropäischen Jugendstils. Als gelernter Bildhauer schuf er zahlreiche Skulpturen aus Gips, Marmor und Bronze. Minnes Pläne für den in Flandern berühmten Vorkämpfer sozialdemokratischer Ideen, Jan Volders, ein großes Denkmal zu schaffen entstand, wie aus einem Museumsinventars hervorgehet, im Jahr 1897, einem Jahr nach dessen Tod. Volders politische Aktivitäten begeisterten zu dieser Zeit u.a. auch Henry van de Velde, der in seiner Autobiografie enthusiastisch den Charakter der Skulptur und den Entstehungsprozess schildert. Er schreibt,

"dass eine Allegorie der Brüderlichkeit den leidenschaftlichen und edlen Charakter Volders' zutreffender verherrlichen würde als eine konventionelle Porträtstatue. Zwei männliche Gestalten standen einander auf einer Barke gegenüber und hielten einander mit gespannten, stahlharten Muskeln fest, wie um den Stürmen zu widerstehen, die um sie tobten. Im Stil hatte die Gruppe etwas von der ergreifenden Kraft primitiver romanischer Portalskulpturen.
Sie war drei Meter hoch, und Minne arbeitete mehr als sechs Monate an ihr.
Er hoffte, die stillschweigende, aber heftige Opposition der Brüsseler Sektion der Belgischen Arbeiterpartei (P.O.B.), die den Auftrag erteilen sollte, zu überwinden."

Entgegen seinen Hoffnungen ist Minne von der Arbeiterpartei nicht für die Ausführung dieser Skulptur beauftragt worden. Und daher - wieder der Schilderung Henry van de Veldes folgend -

"sahen wir Minne ruhig, kalt, erbittert, mit Hammerschlägen einen Kopf, einen Arm, einen Schenkel der gewaltigen Plastik herunterschlagen, mitleidlos, scheinbar gleichgültig wie ein Henker. Wir wohnten ohnmächtig, versteinert und machtlos dieser nie wiedergutzumachenden, unwiderruflichen Hinrichtung bei."

Im Wien der Jahrhundertwende waren einige in Frankreich und Belgien wirkende, von der Pariser Kunstgalerie La maison moderne vertretene Künstler, darunter Henry van de Velde, Fernand Khnopff, Edgar Degas und eben auch Georges Minne, hoch angesehen. Die Künstlervereinigung Sezession stellte daher immer wieder Arbeiten dieser Künstler aus; so wurden u.a. Arbeiten Minnes in der Zeit zwischen 1898 bis 1905 mehrmals in Wien mit großem Erfolg gezeigt. In der VIII. Sezessionsausstellung im Herbst 1900 wurde eine Skulptur wie die unsere, allerdings in Bronze gegossen, unter der Bezeichnung "Skizze zum Volder-Monument" präsentiert.

Bei den Mitgliedern der - avantgardistischen - Wiener Sezession stieß die Skulptur wegen ihrer künstlerischen Gestaltung und ihrer überzeugenden Symbolik auf ungeteilte Bewunderung: Die zwei Jünglinge, die nur durch Zusammenhalt das Gleichgewicht der schmalen Barke, auf der sie stehen, halten können, sah man als gutes Symbol für Notwendigkeit und Effekt von Solidarität an. Dass die "modern" anmutende Figurengruppe aber wie die "knieenden Jünglinge" aus dem Jahr 1900 dem damaligen Zeitgeschmack nicht entsprochen haben, geht aus einem Beitrag von - Ludwig Hevesi, des renommierten Kunstkritikers und Förderers der Wiener Sezession hervor. Er schreibt in einem Kommentar zur Secessionsausstellung im Jahr 1900:

"Den Vogel der Kuriosität schließt George Minne ab. Man sieht hier … auch die Skizze zu einem Volder-Denkmal." (…) (Weiter zu den "knieenden Jünglingen): "Das Auge Minnes gleicht jenen Vexierspiegeln, in denen die menschliche Gestalt lang und hager ausgezogen erscheint. Die Männer, die auf jenem Brunnenkranze knien und in das geweihte Wasser hinunterstarren, gleichen christlichen Fakiren. Seit dem Mittelalter ist keine solche dürre, grätige, eckige Asketenplastik gemacht worden. Diese Menschen sind mit der Milch der sieben mageren Kühe gesäugt, sie bestehen größtenteils aus Röhrenknochen und Muskelschwund. Nur bei solcher Ausmergelung ist es möglich, dass einer sich selbst in der Weise umarmt, wie diese armen Leute.
Sie können in der Tat mit den Händen überall hinlangen, sogar kreuzweise an ihre eigenen Schulterblätter. Und im Knien sind sie Spezialisten, sie sind dazu geboren und stammen von Büßern ab, die auf den Knien heilige Berge emporrutschen. Und dennoch sind es keine Karikaturen. In diesen Jammergestalten liegt eine Inbrunst und Geistigkeit, wie man sie erst wieder in unseren Tagen darzustellen weiß. Man muss den Geschmack des Künstlers keineswegs teilen, um zu erkennen, dass sein Werk mehr ist, als Illustration einer neuen Entfettungsmethode, es ist eine starke künstlerische Empfindung darin, die sich eigene Formen gesucht und diese in ein (hoffentlich
vorläufiges) System gebracht hat."

Bei unseren Recherchen zu der Skulptur "Solidarité" machten wir in der Lektüre zur Wiener Werkstätte eine wertvolle Entdeckung: eine Marmorskulptur "Solidarité" ist auf einem Photo des Büros der Wiener Werkstätte deutlich erkennbar.
Wir vermuten, dass sich der Mitbegründer der WW, Fritz Wärndorfer - der ein begeisterter Sammler internationaler zeitgenössischer Kunst war - diese Skulptur gekauft und in den Büroräumen der Wiener Werkstätte aufgestellt hat. Bis zu welchem Zeitpunkt die Skulptur dort blieb, ist unklar, sehr wahrscheinlich ist, dass Wärndorfer sie, als er 1914 aus der Wiener Werkstätte ausschied und Österreich verließ, verkauft und dass Carl von Reininghaus sie erworben hat.
Zu der unter den Erben von Carl von Reininghaus 1929 aufgeteilten gewaltigen Kunstsammlung zählte auch die in seiner Nachlassabhandlung mehrfach dokumentierte, von uns jetzt angebotene Marmorskulptur, die in dem Erbteilungsverfahren wiederholt als "Ringende Knaben" bezeichnet und auch photographisch festgehalten wird. Die Skulptur war dann im Eigentum der Familie Reininghaus von wo sie in deutschen Privateigentum überging. Das museale Inventar des Koninklijk Museums voor Schone Kunsten in Antwerpen kennt mehrere Bronzeabgüsse, einen Gipsabguss und nur zwei weitere Exemplare aus Marmor: ein Objekt befindet sich im Narodni Muzeum in Prag, ein anderes im Museum of Art in Cleveland.
Bei unserer Marmorskulptur handelt sich somit um eine dritte Ausführung.

Die Marmorskulptur Solidarité (Fraternité) ist ein hervorragendes Beispiel für den symbolistischen, die Künstler der Wiener Sezession beeinflussenden belgischen Jugendstil. Und wenn sie, wie wir vermuten, tatsächlich mit dem in der Wiener Werkstätte gezeigten Objekt ident ist, ist sie zusätzlicher von großer kunsthistorischer Bedeutung.

Wir bedanken uns bei Frau Dr. Bisanz-Prakken von der Albertina, Wien für die Beurteilung der Skulptur.

(EP/MP)